Ausgebremst vom Klopapier-Effekt

Zum Glück kriegen wir die Pandemie langsam in den Griff – oder haben uns zumindest darauf eingestellt. Dafür trifft uns jetzt eine Krise, die seit dem Wiederaufbau nach dem letzten Weltkrieg in den westlichen Bundesländern ausgerottet war: leere Regale. Dialog im Sportfachgeschäft:

„Wie ist denn die Lieferzeit für dieses Mountain Bike?“

„Lieferzeit? Keine.“

„Weil Sie sofort liefern können?“

„Nein, weil der Hersteller nicht mehr liefern kann und niemand weiß, wann er das wieder kann.“

Alles ausverkauft, Nachschub unmöglich, weil Lieferteile nicht mehr geliefert werden: die Folgen des Lockdowns. Eine Volkswirtschaft ist kein Volkswagen. Einen Golf oder Polo kann ich ein Jahr lang in die Garage stellen – und er springt wieder an. Die Globalisierung nicht. Sie würgt seit Monaten epileptisch, weil Lieferketten gerissen sind und/oder vom Aufholeffekt plattgemacht werden. Kaminbauer bauen keine Kamine, weil Material fehlt. Spiegelbauer versenden keine Spiegel, weil Verpackungsmaterial fünf Monate Lieferfrist hat. Alles ausverkauft. Gab es in dieser Dimension noch nie. Was früher ein Krieg anrichtete, schafft jetzt der Lockdown. Er dauerte wenige Monate, seine Folgen Jahre.

Dem Baugewerbe fehlen Holz und Betonstahl, auch Styropor als Dämmmaterial: Baustellen stehen still. Der Schwabe baut sein Häusle nicht, sondern verschiebt den Baubeginn, während er seinen alten Mietvertrag bereits gekündigt hat und deshalb samt Familie bald unter der Brücke schläft oder im Hotel, weil sein neues Heim nicht gebaut werden kann. Bau-Unternehmen kaufen sich mit fünfstelligen Summen aus Verträgen frei, damit der Kunde bloß kein neues Haus baut, das ohnehin nicht gebaut werden kann, weil es hinten und vorne an Material fehlt. Immer noch billiger, als wegen der Preisexplosion beim Material pleite zu gehen. Andere Unternehmen bauen mangels Material einfach so lange nicht und geraten in Verzug, bis der Bauherr mit seiner Geduld am Ende den Vertrag kündigt und eine Menge Geld verliert, das ihm zum neuen Hausbau fehlt.

Die Baubranche spricht vom schlimmsten Materialmangel seit der Wiedervereinigung. Unternehmen, die dringend Aufträge brauchen, können diese nicht annehmen und/oder vollenden und werden insolvent, Arbeitsplätze werden vernichtet, während die Leitmedien euphorisch vom Aufschwung berichten. Ach, wäre es schön, wenn „Wirtschaft“ ein Schulfach wäre und Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten oder in ihr konsumieren oder über sie schreiben, etwas von Wirtschaft verstehen würden; zum Beispiel vom Klopapier-Effekt.

Wir alle kennen ihn von der 1. Corona-Welle: Plötzlich war im Laden das Klopapier aus. Als wieder welches da war, war es noch schneller und noch länger aus, weil …? Weil jetzt alle horteten, als ob der Gesundheitsminister Wischen bald nur noch auf dem Handy erlauben würde. Hätte jeder lediglich das gekauft, was er braucht, hätte es keine leeren Regale gegeben. Was wir damals mit Klopapier erlebten, erlebt die Wirtschaft gerade mit Tausenden Lieferartikeln: Alles aus, auch weil viele horten.

Auf Dämmstoff warten Bauunternehmen derzeit bis zu 5 Monate. Betonstahl ist um ein Drittel teurer als im Vorjahr. Styropor als Dämmstoff war im April um die Hälfte teurer als letztes Jahr. Wer soll das bezahlen? Einige werden es nicht mehr können und ihre Existenz verlieren. Die Inflation steigt in Rekordsprüngen, während die EZB, um die insolventen EU-Staaten vor dem Bankrott zu bewahren, immer weiter Zinsverweigerung betreibt. Auch Wohnmobile: Wer jetzt nicht vom Lager bestellt – sofern noch vorhanden – wartet oft bis nächstes Jahr auf seinen Camper.

TV-Hersteller fahren trotz starker Nachfrage ihre Produktion zurück, weil sie keine Lieferteile mehr bekommen. Hierzulande wurden im Corona-Jahr 2020 um 13 Prozent mehr Fernseher verkauft als 2019, während zum ersten Mal seit 2017 die Ladenpreise für TV-Geräte sanken.

Bei einer DIHK-Blitzumfrage sagten 83 Prozent der befragten Unternehmen, dass entweder der Preisanstieg oder die Lieferprobleme bei den Vorprodukten sie in Schwierigkeiten gebracht haben. Das betrifft nicht nur einzelne Branchen. Das bremst nahezu alle Teile der Wirtschaft, die produzieren. Dienstleister haben dieses Problem nicht direkt – dafür indirekt: Wenn es ihren produzierenden Klienten schlecht geht, geben diese auch keine Aufträge an Dienstleister aus.

Wir würden uns ja gerne wirtschaftlich von Corona erholen, aber der Klopapier-Effekt lässt uns nicht. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft schätzt, dass die diversen Bremsfaktoren die deutsche Wirtschaft 25 Milliarden Euro kosten werden. Die Zeche zahlen hauptsächlich Metallindustrie, Fahrzeugbau, Baugewerbe und Elektronikindustrie – und ihre Beschäftigten und Lieferanten. Denn wenn der eine Lieferant nicht liefern kann, leidet auch der andere, der noch könnte, weil er keine Aufträge mehr bekommt. Die Hälfte der Befragten gibt 2021 verloren und rechnet erst im neuen Jahr mit besserer Belieferung. Ein Viertel der Befragten kann nicht einmal das absehen und hat schlicht keine Ahnung, wann es denn jemals wieder besser werden könnte: Überleben die so lange? Wie viele nicht? Die finanziellen Polster sind doch meist schon seit Corona aufgebraucht!

Nun könnte man einwenden: Weder ein neues TV-Gerät noch ein Wohnmobil noch ein eigenes Haus sind lebensnotwendige Güter. Das Problem ist mithin ein Luxusproblem: Vieles, was wir nicht unbedingt brauchen, kann derzeit nicht geliefert werden. Das scheint mir jedoch eine sehr minimalistische Sicht aufs Leben zu sein: Leben ist das, was wir zum Überleben nötig haben? So weit sind 95 Prozent unserer Bevölkerung noch nicht, die sich über ihren Konsum definieren. Außerdem macht auch der Konsum den Kohl nicht mehr fett, wenn reihenweise Produzenten pleitegehen, weil sie nicht mehr liefern können.

Interessant ist die Lieferbremse auch aus wissenschaftlicher Sicht: Was jetzt lichterloh brennt, schwelt schon seit Jahren, zum Beispiel der Chip-Nachschub. Seit Jahren gibt es viel zu wenige Lieferanten für eine extrem steigende Nachfrage. Auch nicht der größte Konzern baut neue Fabriken und auch nicht die Landesregierungen – sie bauen lieber Regionalflughäfen für fünf Flüge am Tag.

Richtig giftig greift die Bremse, weil sie an so vielen Stellen bremst, zum Beispiel auch bei Containern. Über die Hälfte der befragten Unternehmen berichten von Problemen bei der Seefracht; drei Viertel über fehlende Frachtkapazitäten auf Handelsschiffen. Die Schiffe sind da, nur die Container nicht. Seit 2020 hat sich der Mietpreis wegen der Container-Knappheit gut versiebenfacht; von 1.500 Dollar auf jetzt über 10.000 Dollar. Es sind einfach nicht genügend Container da, zum Beispiel wegen China.

Das Land exportiert sehr viel mehr Waren als es importiert, also exportiert es sozusagen auch (zu viele) Container. Deshalb stauen sich die Container in vielen Landeshäfen, während sie in China fehlen. Daher ist es in China mittlerweile billiger, sich einen neuen Container schweißen zu lassen, bevor man einen alten mietet. Neu kaufen ist billiger als alt mieten? Das hieße für jedes andere Produkt die Wirtschaftswelt auf den Kopf gestellt.

Und wie der Chipmangel so war auch die Container-Misere seit Jahren absehbar. Warum hat man nicht mehr davon gebaut? Weil jahrelang die Frachtpreise am Boden waren und die Reedereien oft auf die Fracht draufzahlen mussten, weshalb sie ihre Kapazitäten runterfuhren und jetzt natürlich mit den gestiegenen Preisen rausholen, was rauszuholen ist. Das alles ist besorgniserregender Wildwest-Kapitalismus, der uns einen megalomanen Wohlstandsverlust verschafft?

Nein, ist es nicht. Das ist schlicht Konjunktur: Einmal rauf, einmal runter. What goes up, must come down. Und manchmal geht es nicht rauf und runter, sondern einen Schritt rauf und zwei runter. Dann warten wir eben ein Jahr auf den Camper nach unseren Extrawünschen – oder kaufen einen „von der Stange“ und verkaufen ihn ohne viel Verlust, sobald unser Wunsch-Camper lieferbereit ist. Und dann baut das Bau-Unternehmen eben nur das, was sich noch bauen lässt und kratzt den letzten Cent zusammen, um nach Corona und Lockdown nun auch diese Zumutung zu überleben. Niemand hat uns Schlaraffia versprochen. Okay – viele haben es uns versprochen und sind jetzt narzisstisch gekränkt, dass ihnen und uns die gebratenen Tauben nicht in den Mund fliegen. Doch das ist ökonomische Opferhaltung: Wenn es nicht ununterbrochen aufwärts geht, sind wir schon beleidigt und verweigern die Mitarbeit.

Wer jammert, ändert nicht. Unternehmer ist, wer etwas unternimmt. Wir haben Corona und den Lockdown geschafft.

Das schaffen wir auch noch!