In welcher Welt leben wir eigentlich?

Ein Konzern veranstaltet eine Hausmesse. Ausgewählte Lieferanten dürfen ihre Dienste und Innovationen präsentieren. Es sind einige bahnbrechende Neuentwicklungen dabei. Der CPO geht von Stand zu Stand und sagt: „Tolle Sache – das wollen wir! Aber geben Sie es uns 20 Prozent billiger!“ Wahnsinn?

„Das ist nicht Wahnsinn“, kommentiert ein Lieferant trocken. „Das ist Supplier Innovation: Squeeze die Lieferanten bis aufs Blut und wenn sie nach Luft schnappen, drück ihnen auch noch die Hälfte deiner Entwicklungsaufgaben aufs Auge – möglichst zum Nulltarif.“ Das ist Supplier Innovation?

„Ist es natürlich nicht!“, echauffiert sich drei Konzerne weiter ein anderer CPO. „Wir geben unseren Schlüssellieferanten so viel Spielraum, dass sie maximal innovativ sein können.“ Das heißt, ihr squeezt die nicht? „Bei den älteren, bereits gut abgeschriebenen Artikeln schon – aber nicht bei den Innovationen. Wir können ja auch rechnen und wissen, was Innovation kostet.“ Erstaunlich, nicht? Da erledigt sich die ökonomisch zwingende Unmoral des Lieferanten-Squeezing plötzlich ohne jede Moralkeule oder Preisdiktat schlicht über intelligente Supplier Innovation – zumindest für die innovativen Lieferanten. Wie hat dieser Konzern seine Einkäufer an die Leine genommen?

Warum hängen die nicht mehr wie Bluthunde an der Lieferantenwade und hecheln „Savings! Savings! Savings!“ Weil der Vorstand ein Machtwort gesprochen hat: „Wenn ich rausfinde, dass einer von euch eine Innovation weggesqueezt hat, der kriegt es mit mir zu tun!“ Erwiderung der Einkäufer: „Und womit verdienen wir jetzt unseren Bonus?“ Mit einer die üblichen Savings ergänzenden Innovationsprämie. Und wieder die Einkäufer: „Wir sind keine Ingenieure! Wie sollen wir eine echte Innovation von einem Kladderadatsch unterscheiden? Und über welche internen Prozesse kriegen wir das Placet der Entwickler und Ingenieure? Wer garantiert, dass die uns nicht auslachen oder unsere Ideen annektieren?“ Also setzte die Personalentwicklung ein Einkäufer-Upgrade mit internen und externen Ingenieuren und Experten auf. Und der COO rief eine interfunktionelle Arbeitsgruppe für die neuen Prozesse ins Leben. Resultat?

In zwei Worten: Supplier Innovation.

In diesem Unternehmen herrscht jetzt eine Innovationskultur (auch im Einkauf). Vorher herrschte dort eine Savings&Squeezing-Preiskultur. Das ist banal? Ja, wenn man nie in der Praxis war.

Neulich klagte mir ein Geschäftsführer: „Wir preisdrücken uns noch zu Tode! Kein hoch innovativer Lieferant will was für uns entwickeln und unsere eigene F&E ist viel zu teuer! Seit Jahren versuchen wir einen Kulturwandel – aber der kommt nicht an der Basis, geschweige denn in der Supply Chain an!“ Ich dachte nicht lange nach, sondern ratterte einfach die Best-Practice-Benchmark herunter: „Machtwort der Geschäftsleitung? Ergänzung des Savings-Bonus durch Innovationsprämie? Technischer und innovatorischer Upgrade für die Nicht-Ingenieure im Einkauf? Reengineering oder Neugestaltung der internen Innovationsprozesse via Einkauf? Oder irgendein anderes kulturwandelflankierendes Instrument?“ Fehlanzeige. Und der Geschäftsführer wundert sich, dass er seinen Kulturwandel nicht verankert kriegt?

Wir wissen, wie Industrie 4.0 funktioniert. Aber das war gestern. Morgen ist Innovation 4.0. Und die ist nicht „nur“ mit technologischen Neuerungen zu machen. Dafür muss man etwas von Cultural Engineering verstehen. Dafür darf man Lieferanten nicht wie Liefersklaven, Bonusvieh und Preiszitronen behandeln, sondern sollte sie wie Netzwerkpartner auf Augenhöhe ansprechen. Dafür darf man Innovation nicht als Herrschaftswissen der regierenden Klasse verstehen, sondern muss dulden, dass zum Beispiel auf Plattformen der Open Innovation auch der „technisch unbegabte Laie“ Vorschläge zu einem neuen Produkt macht. Daran mögen einige Ingenieure, Experten, Hierarchen, Einkäufer und Supply (Chain) Manager schwer zu schlucken haben. Wenn ihnen das gelingt, wenn sie die Kehle freibekommen, dann gelingt der kulturelle Wandel, dann hat das Cultural Engineering Erfolg. Wir leben nicht in Zeiten der Globalisierung.

Wir leben in und mit und von der Frage:

Du kannst managen.

Kannst du auch Kultur?

Yes, we can?