Nähen bis der Tod kommt

Am Sonntag las ich einen krassen SPIEGEL-Artikel über die Näherinnen in Bangladesch. Was kommt da bei Ihnen hoch, wenn Sie sowas lesen? Kommt da überhaupt noch was hoch in unseren dissoziierten Zeiten der Dauertotalverdrängung? Ich spürte die nackte Empörung. Immer noch. Und immer wieder. Und das nennt sich Globalisierung. Schrecklich. Dann las ich weiter. Man liest weiter und die Welt dreht sich weiter. Was heutzutage an moralischer Hornhaut von einem verlangt wird … An diesem Sonntag nicht.

An diesem Sonntag konnte ich mich nicht beherrschen und machte das Thema in der Kaffeerunde zum Thema. Was kam? Tippen Sie mal. Richtig, natürlich: Die bösen Konzerne sind mal wieder an allem schuld. Wenn die nicht so gewissenlos produzieren würden! Aha. Die Produktion kann unmoralisch sein und die Konsumption nicht? Wer behauptet das? Die Opfer. Also nicht die zwangsweisen Opfer in Bangladesch, sondern hier bei uns jene Fashion Victims mit der unreflektierten aber sekundärnutzenträchtigen Opferhaltung: „Was kann ich als einzelner Konsument schon tun?“ Zum Beispiel auf die Oma hören.

Die hat früher schon gesagt: „Man muss bei sich selber anfangen.“ Womit? Ich habe spontan nach Lektüre des SPIEGEL noch ein Patenkind in Afrika unterstützt. War das richtig?

Ich habe keine Ahnung. Und ich misstraue jedem, der mir weismachen will, dass er es besser weiß, besser kann und besser macht. Moral ist kein Narzisstenwettstreit: Meine ist größer als deine! Die Globalisierung ist (nicht nur) ein derartiges Horror-Kabinett der Unsäglichkeit, dass man das sowieso nie wiedergutmachen kann. Aber man kann wenigstens versuchen, etwas zu tun. Das ist nicht logisch. Das ist moralisch. Wo lernt man diese Moral?

Im Hörsaal?

Nachdem wir uns die Lachtränen von der Wange gewischt haben: Selbst wenn – was würde das nützen? Wie mir ein Absolvent jüngst mitteilte, sozusagen als Fazit seines Aufenthaltes an der Alma Mater: „Ach, wissen Sie Frau Professor, an der Uni lernt man so viel Krempel …“ Wir brauchen keine fünf Millionen Master in Ethical Economy. Über die Globalisierung nachdenken tun weiß Gott schon genug Leute – und wohin hat es uns gebracht?

Wir brauchen keine weiteren schlauen Gedanken, sondern Taten: Was kann ich als nächstes tun? Wir brauchen keine Argumente, sondern Nudges. Das sind die kleinen Hebel der Verführung mit großer Wirkung. Wer zum Beispiel abnehmen will, schafft es (mehrheitlich) nicht mit noch so viel Willenskraft. Aber wenn er/sie das Mittagessen vom kleineren Frühstücksteller isst, dann nudgt ihn der Tellertausch automatisch zu kleineren Portionen: Et voilà.

Einer meiner Moral Nudges ist: Sobald mich eine neue Horror-Story aus den Medien schockt, klicke ich so lange auf meinem Tablet herum, bis ich etwas finde, mit dem ich zumindest einen kleinen, persönlichen, moralischen Ausgleich zur brüllenden Ungerechtigkeit schaffen kann. Ich wünsche mir ein T-Shirt mit dem Aufdruck:

I Know My Nudge. What’s Yours?

Was ist Ihrer?

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