Arbeiten Sie?

Und wie! Alle arbeiten (auch Studieren macht übrigens Arbeit). Wie komme ich darauf? Einfach: aktueller Anlass. Tag der Arbeit. Heuer eher ärgerlich, da auf den Sonntag fallend und in anderen Jahren eher selbstverständlich. Wie Weihnachten. Nimmt man gerne mit und denkt sich nichts dabei. Wer aber die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Wir wiederholen sie gerade, in globalem Maßstab.

Der Tag der Arbeit geht auf die Haymarket Riots am 1. Mai 1886 in Chicago zurück. Es war eine der ersten großen Demonstrationen für den 8-Stunden-Tag, nach tagelangem Streik und Massenaussperrungen. Wobei „Demo“ ein Euphemismus ist: 200 Verletzte, eine Bombenexplosion. 1933 wurde der Feiertag auch bei uns im Reichsgesetz verankert und nach dem Krieg von den Alliierten als Feiertag bestätigt. Seit den 80er-Jahren gibt er regelmäßig Anlass zu großen Kundgebungen, leider häufig mit Ausschreitungen verbunden. So kam der Tag der Arbeit zu uns. Wie kommen wir zu ihm?

Die Organisationspsychologen haben ein schönes Theorem, das Job 1/Job 2-Theorem. Sein exemplarischer Holzfäller taucht in vielen Management-Büchern auf: Er schlägt Holz im Akkord, der Akkord liegt bei acht Bäumen am Tag. Am ersten schafft er das Soll locker. Am zweiten nur sechs. Am dritten nur noch vier. Er ist verzweifelt, er kann die Zielvorgabe nicht halten. Da kommt der Vorarbeiter vorbei und sagt: „Kollege, mach mal Pause. Du musst deine Säge nachschleifen!“ Sagt der Holzfäller: „Keine Zeit für eine Pause! Ich schaffe die Vorgabe doch jetzt schon kaum!“ Wer lacht, leidet an Reflexionsdefizit.

Wir alle haben einen Job 1: die Arbeit, für die wir bezahlt werden. Die meisten von uns sind in diesem Job fachlich exzellent. Job 2 wäre nun, diese Arbeit innerhalb der gegebenen Freiräume so zu gestalten, dass nicht nur die Unternehmensziele, sondern auch Ziele wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Erhalt von Arbeitskraft und Gesundheit, Selbstverwirklichung, persönliche Entwicklung und ökologische und soziale Nachhaltigkeit erreicht werden. In diesem Job sind wir weit weniger gut (weil viele meinen, das sei ausschließlich der Job vom Chef). Viele leisten einen tollen Job 1, verschlafen aber Job 2 und beuten deshalb unabsichtlich und unreflektiert Gesundheit, Lebensträume, charakterliche Integrität, persönliche Moral und/oder Beziehung und Familie aus. Schlimm genug. Schlimmer: Die Globalisierung ermöglicht es uns, dieses Job-2-Versagen sozusagen global zu exportieren. Es ist der Exportschlager der Globalisierung schlechthin. Das ist kein Wunder: Job 2 ist bedeutend schwieriger und schwerer als Job 1 (und Job 1 ist schon nicht leicht). Praktisch jeder kann arbeiten, managen und konsumieren. Arbeit, Management und Konsum jedoch so zu gestalten, dass wir mittelbar uns und andere(s) nicht schädigen – das ist Hohe Kunst.

In Chicago haben sie für den 8-Stunden-Arbeitstag demonstriert. Viele Kolleginnen und Kollegen in den Schwellenländern, auf den Baumwoll-, Blumen- und Obstplantagen und in den Sweat Shops wären schon für einen 12-Stunden-Tag herzlich dankbar. Und über ein Bett zur Nacht. Und keine Wachen mit umgeschnallten Knarren an beiden Enden der Fabrikhalle. Und Pinkelpausen ohne Lohnabzug. Und Vorgesetzte, die ihre Hände bei sich behalten können.

Wenn wir also den Tag der Arbeit auf der Demo oder bequem auf dem Sofa begehen: Gedenken wir unserer Schwestern und Brüder. Wir haben es gut. Die Menschen, von denen wir leben und die für uns in den Supply Chains arbeiten (auch am Tag der Arbeit) haben es nicht so gut. Sorgen wir dafür, dass sich das ändert. Im Sinne des Wortes: Tragen wir Sorge. Es ist nämlich nicht so schlimm wie die Happyologen immer tun: Sorge ist nicht das Gegenteil von Glück, sondern Zeichen eines reifen Charakters (Grübeln ist was anderes). Mann/Frau darf sich ruhig um den Zustand der Welt sorgen. Das adelt. Und vielleicht/hoffentlich ändert sich dadurch was. Das heißt nicht, dass in den Teilen der Supply Chains, die direkt vor unserer Nase liegen, alles nach Rosen riecht. Das tut es nicht, wie jede(r) weiß, der und die in der Logistik mit anpackt.

Lasst uns daran arbeiten, dass Arbeit nicht nur immer flexibler und agiler wird, sondern auch menschlicher, nachhaltiger, sympathischer, entwicklungsträchtiger – und das nicht nur am Tag der Arbeit. Job 2 ist kein Eintagsjob, sondern eine strategische, eine Lebensaufgabe. Gut ist es schon. Besser kann es immer werden.

2 Kommentare zu „Arbeiten Sie?

  1. Ich habe eben in der schrotundkorn ein Interview mit Ihnen gelesen und bin sehr glücklich, diesen Blog entdeckt zu haben! Vielen Dank für Ihre anregenden Gedanken!

    1. Liebe Michaela, da haben Sie mit einem Wort das zentrale Anliegen unseres kleinen Blogs erfasst: Anregend soll er sein. Zu guten Gedanken und Taten anregen. Schön, wenn Sie das so intuitiv und treffend erfasst haben und danke für die Bestätigung, über die sich jede Autorin freut.

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