Was uns heilig ist

Entschuldigung, aber ich kann es mir nicht verkneifen – gleich wird’s persönlich. Ich bekomme also dieser Tage von der entfernten Bekanntschaft die Einladung zur Firmung der beiden Geschwister. Ich freue mich. Natürlich. Dann fällt mein Blick auf das Firmfoto.

Irgendwie kriege ich das, was ich auf dem Foto sehe, nicht mit dem zusammen, was ich über das Alter der beiden weiß: 14. Er unverkennbar in Hemd und Anzug, beides maßgeschneidert, handgenähte Schuhe. Sie in einer etwas mehr als transparenten weißen Bluse, die den darunter getragenen BH mit Spitzenbesatz, gelinde gesagt, fausthiebartig zur Geltung bringt. Auf ihrer Geschenkeliste im Internet sind von 40 Artikeln gut 30 von Luxus-Designern. Wozu braucht eine 14-Jährige ein Haute-Couture-Teil für 500 Euro, das nur in Mailand zu beziehen ist? Zu diesem Anlass?

Der Einfachheit halber: Konzentrieren wir uns aus naheliegenden Gründen im Folgenden auf das Mädchen (am männlichen Ethos, juvenil oder anderweitig, versuche ich mich ein andermal; versprochen). Was sie darstellt, irritiert mich.

Ich weiß, meine Irritation ist schwer verständlich. Ein Kollege aus dem Norden machte mich darauf aufmerksam, dass in seiner Verwandtschaft die Konfirmation seit Generationen lediglich Anlass für ein kollektives Verwandtschaftsbesäufnis sei: „Die Konfirmanden haben sich dran gewöhnt, der Pfarrer bechert mit und die Erwachsenen sind spätestens zum Mittagessen betrunken.“ Wofür ein Anlass „eigentlich“ gedacht ist und wofür wir ihn benutzen, hat offensichtlich nicht immer etwas miteinander zu tun.

Außerdem: Wie steht eine 14-Jährige nicht vor dem Altar, sondern vor ihrer Peer Group da, wenn alle ihre Konkurrentinnen im Bordell-Chic den Mittelgang entlang catwalken und nur sie „züchtig“ gekleidet ist? Hell hath no fury like a woman, 14 years old, wie schon Shakespeare nicht zu formulieren wagte. Wir hören förmlich die tödlichste aller Beleidigungen gezischelt fallen: „Sieht aus wie ihre Mutter …” Apropos Mutter.

Ich konnte es mir leider nicht verkneifen, gegenüber der Mutter das Outfit der Tochter anzusprechen. Sie reagierte erstaunlich gelassen auf meinen kaum verhohlenen Vorwurf und meinte, dass ihr die See-Through-Bluse im Vergleich zur Kleidung der andern Mädels „fast keusch“ erscheine und dass sie das atemraubende Styling erlaubt habe, „weil es meiner Tochter wichtig ist“. Das ist noch untertrieben.

Hätte die Mutter Opposition versucht, zumal in diesem kritischen Alter (des Kindes), die Tochter hätte einen Krieg vom Zaun gebrochen. Denn nichts ist ihr heiliger als Fashion Leadership und Designer-Status. Das gönne ich ihr. Von Herzen.

Jeder Mensch braucht etwas, das ihm heilig ist. Etwas, woran er/sie sich festhalten kann und was ihm/ihr das (für die meisten) wichtigste aller seelischen Bedürfnisse erfüllt: soziale Anerkennung durch die Peer Group. Ich wiederhole: Ich habe nichts dagegen. Was mich auf die Palme treibt, sind nicht die vorhandenen Werte, sondern die nicht vorhandene Wertediskussion.

Da stöckelt offensichtlich bald ein ganzer Jahrgang junger Mädels in Kleidung zum Altar, die in jeder Bar Aufsehen erregen würde. Noch einmal: Nichts dagegen – wir leben in einem freien Land und was eine(r) anzieht, ist in erster Linie Privatsache. In zweiter Linie: Hallo?

Warum diskutiert das keiner? Warum findet das die Mutter okay? Warum bin ich anscheinend die einzige in der Verwandt- und Bekanntschaft, die so etwas der Diskussion würdig findet? Ich kann mir die Frage auch gerne selbst beantworten: Weil niemand mehr imstande oder willens ist, eine Wertediskussion zu führen.

Wir sind inzwischen im totalen moralischen Relativismus angekommen: Anything goes. In den Supply Chains sterben die Plantagenarbeiter? Geht! Genauso wie die ultra-moralische Absage der LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) an den Consumer Cult: Geht. Auch. Alles geht und diskutiert wird nichts. Natürlich reden wir darüber!

Aber entweder wir hauen uns unsere konträren Werte wie nasse Lappen um die Ohren und lassen nichts außerhalb des Weihrauchkreises unseres eigenen Wertetabernakels gelten. Oder wir ignorieren uns gegenseitig, durchaus wohlwollend, und nennen das dann Toleranz. Oder Selbstverwirklichung. Beides übrigens ebenfalls Werte, aber: offensichtlich nicht der Rede wert.

Besagter Tochter geht der Wert „Anerkennung der Peer Group und Auffallen um jeden Preis“ buchstäblich über alles. Gut. Akzeptiert. Was ist mit anderen Werten wie klassische Eleganz, modische Souveränität, authentischem oder gar nachhaltigem Stil, Traditionsbewusstsein, Familienwerten oder Rücksicht auf das Schamempfinden anderer? Ich weiß, manche dieser Werte lösen allergische Reaktionen aus. Aber ist das wirklich alles, was wir zum Thema Werte noch zustande bringen? Spott, Abwertung oder allergische Reaktion?

Der moderne Mensch kann Menschen auf den Mond schießen und das Atom spalten. Aber eine Wertediskussion? Kann er nicht.

Ich wünschte, mir würde widersprochen.

2 Kommentare zu „Was uns heilig ist

  1. Guten Tag Frau Prof. Hartmann, bin jetzt 43 Jahre alt, vor 28 Jahren spielten noch 15 jährige Kinder mit Playmobil, was heute nicht einmal mehr vorstellbar ist. Anything goes, schreiben Sie. Habe Ihr gutes Buch mit Gewinn gelesen und mich beschlich dabei der Gedanke, dass wir auch in Europa noch ähnliche Zustände erleben werden, wenn nicht gar in Ansätzen dieses bereits heute können – in Nürnberg vielleicht, wenn abends Rentner nach Pfandflaschen mit Stock und Taschenlampe ausgestattet suchen oder wenn eine Frisörin 1200 EUR netto am Monatsende bekommt. Wir leben in spannenden Zeiten! Viele Grüße, Michael Weick

    1. Da haben Sie Recht, lieber Herr Weick, wir müssen bloß die Augen aufmachen, dann sehen wir erstaunliche bis empörende Zustände praktisch direkt vor der Haustür. Man vergisst, verdrängt und übersieht das ja gerne. Ich leider manchmal auch. Danke für die sanfte Erinnerung. Wenn wir uns gegenseitig aufmerksam halten, schläft keiner ein …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert