Teile-Tsunami

Kennen Sie den Audi A3? Frage: Welchen? Vom Audi A3 gibt es nämlich 1038 theoretische Varianten, alle lieferbar. Das ist eine Zehn mit 38 Nullen. Wie heißt so eine unvorstellbare Zahl? Phantastillion? Gigantilliarde? (Wer studiert Mathe und erhellt uns?)

Das ist nicht nur beim A3 so, sondern bei vielen modernen Autos (und nein, wir werden leider nicht von Audi gesponsert). Geht es nicht gerade um Firmenwagen, führt die Variantenlawine dazu, dass in einem Lieferjahr keine zwei ausgelieferten Modelle sich aufs Haar gleichen. Jeder kriegt sein eigenes Auto. Buchstäblich. Die Auswahl ist für uns Kunden geradezu unglaublich – der Aufwand für Produktion und Logistik ebenfalls. Wie um Himmels willen soll man eine Zahl, die noch nicht einmal gedanklich vorstellbar ist, ganz real in den Griff bekommen? Die Probleme sind exorbitant.

So kann man unmöglich verlässlich vorhersagen, wie viel Exemplare jeder Variante bestellt werden: Die Prognosegüte der Absatz-, Produktions- und Logistikplanung nimmt mit steigender Variantenzahl drastisch ab. Vermehrte Unsicherheit jedoch provoziert steigende Sicherheitsbestände, welche wiederum die Kapitalbindung erhöhen und die Rendite schmälern. Gleichzeitig sinkt der Anteil der Gleichteile, was die einsparungsrelevanten Bündelungseffekte reduziert, man braucht mehr Fläche im Lager, muss mehr Artikelnummern verwalten und tendenziell mehr Lieferanten managen.

Außerdem steigt das Obsoleszenzrisiko von Lagerbeständen. Für das neue Ladys‘ Model nehmen wir extra 40.000 pinke Lederlenkräder auf Lager und nach kaum tausend Auslieferungen verkünden fünf Millionen Likes in den Fashion Blogs, dass Orange das neue Pink ist und schon herrscht Chaos in der Supply Chain. Dieses Chaos versucht das Variantenmanagement, als integrale Komponente des Supply Chain Managements, zu verhindern – oder zumindest auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Dass überhaupt so eine Produktvielfalt angeboten wird, liegt daran, dass für viele Produkte eine Korrelation zwischen Variantenvielfalt und Attraktivität/Absatz gilt oder postuliert wird (Marmelade im Supermarkt ist seltsamerweise eine der vielen Ausnahmen von dieser Korrelation). Im Zeitalter der Individualisierung und Selbstprofilierung will keine(r) von der Stange kaufen. Zumindest keine(r) in Westeuropa. In Amerika, Japan oder Korea ist das anders. Dort herrscht Variantenreduktion, weil zum Beispiel die Amerikaner ihr Auto vor allem wie wollen? Schnell. Vom Hof weg eingekauft. Deshalb gibt es in vielen Ländern feste Ausstattungslinien mit deutlich reduzierten Varianten und deshalb sehr kurzen Lieferzeiten. Viele Westeuropäer verstehen das nicht.

Sie verstehen zum Beispiel nicht, warum sie die Sitzheizung nur in Kombination mit dem Media-Superpaket bekommen. Dabei ist die Sache einfach: Damit die Rendite des Unternehmens nicht völlig im Teile-Tsunami untergeht, reduziert es die überbordende Variantenvielfalt. Analysten führen die schwache Rendite bestimmter Unternehmen auch auf einen Wildwuchs bei den Varianten zurück. Viele Firmen leiden geradezu unter technisch getriebenen Varianten: Die Kunden fragen viele Optionen nicht nach – aber sie sind technisch machbar, also werden sie angeboten. Was das kostet, geht leider oft in der Technikbegeisterung unter. Dabei sind die Summen enorm.

So hat zum Beispiel ein Hersteller seine sagenhafte Vielfalt von 700 Stoßfänger-Varianten auf 280 reduziert und wie viel dabei eingespart? Was tippen Sie? 5,1 Mio. Euro – im Jahr. Und jede Wette: Die Kunden haben das nicht einmal als störend empfunden. Dabei ist so ein Stoßfänger nicht ansatzweise die teuerste Komponente am Auto … Wenn das so einfach ist, warum machen das dann nicht alle?

Antwort in einem Wort: Management.

Wer Varianten in einem Unternehmen reduzieren möchte, erntet zunächst einmal nicht Beifall, sondern Widerstand – wie alles Nötige und Nützliche. Viele Designer waren sicherlich wenig begeistert als 60 Prozent „ihrer“ Stoßfänger gestrichen wurden: „Aber die erhöhen doch ganz klar die Attraktivität des Autos!“, sagte bestimmt auch der Verkauf. Und wenn ein Unternehmen sales-driven ist, dann können Logistik, Einkauf, SCM und Produktion lange von Renditepflege und Variantenreduktion reden, bis was passiert. Es sei denn …

Es sei denn, das Management verfügt über genügend Integrationskompetenz, Diskussionskultur und Moderationsreife, um die via Zentrifugalkraft auseinanderstrebenden Funktionsbereiche unter einen Hut zu bringen. In einigen Unternehmen ist das Management tatsächlich so kompetent in jenen Feldern, die in anderen Unternehmen der technischen und der Fachkompetenz geopfert werden. In diesen variantenschlanken Unternehmen wird Variantenvielfalt auch nicht als sporadische Hauruck-Aktion zelebriert, wenn die Rendite leidet oder die Analysten meckern. In diesen Unternehmen ist die Varianten-Elimination praktisch SCM-Hygiene. Sozusagen wie Händewaschen. Es reicht nicht, das einmal im Jahr zu machen. Will man gesund bleiben, sollte man das immer und immer wieder tun.

Heute schon die Hände gewaschen?

3 Kommentare zu „Teile-Tsunami

  1. Eine Zehn mit 38 Nullen heißt „hundert Sextillionen“. (habe ich mir jetzt nicht ausgedacht :-))
    Als Germanistin möchte ich aber dafür „Phantastillion“ verwenden, unbedingt.

    1. Hallo Alcessa! Erstens: Wow, schnellster Kommentar aller Zeiten! Zweites Wow: Sextillion? Danke für das Wort, wieder was gelernt. Drittens: Eine Germanistin mit Humor, die in wenigen Zeilen auf den Punkt schreibt? Dem ganzen Lehrstuhl-Team ging eben das Herz auf. Und viertens: Mein Blog wird von einer Germanistin gelesen? Empfundener Ritterschlag.

      1. Könnte damit zusammenhängen, dass man in guten alten Zeiten Germanistinnen auch das Lesen beigebracht hat.

        Damals, als es noch [x, y und z] gab … :-))

        In den letzten 10 Jahren hat die Zahl der Blogs stark abgenommen, dafür sind die wirklich exzellenten um so besser zu finden.

        Und dann wäre da noch eine gewisse Informationssucht zu verzeichnen …

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