Wir digitalisieren! Alle! Und alles! Deshalb heißt es Digitale Revolution. Das Schlagwort dieser Tage. Alle reden darüber. Kaum jemand redet über den großen digitalen Konflikt.
Auf der einen Seite des Konflikts wünschen wir uns, dass möglichst vieles digital wird und damit bequem, schnell, agil, flexibel, individuell, kostengünstiger, effizienter, transparenter, fair und gerecht. Und auf der anderen Seite kommt der Chef mit genau diesen Argumenten daher und wendet sie auf unseren eigenen Arbeitsplatz an – dann ist schnell Schluss mit lustig. Dann heißt das nicht mehr „Digitale Transformation“, sondern schlicht Disruption und „Wie soll ich das denn jetzt auch noch wuppen?“.
Plötzlich wird von uns verlangt, den Grad der User Experience unserer Online-Performance „entscheidend“ zu steigern oder die Frage zu klären, ob wir Social Media Forensics brauchen. Woher sollen wir das wissen? Wir nutzen die Digitalisierung. Und gerne. Aber wir beherrschen sie noch nicht. Wir haben das nicht gelernt. Wir können das noch nicht wirklich. Verstehen und gestalten. Managen. Konzeptionieren. Strategisch vorantreiben. Das macht Angst.
Schwellen-, Berührungs-, Versagensangst. Angst vor Blamage, Statusverlust und Verlust sozialer Anerkennung. Also schieben wir das Thema vor uns her oder werden biblisch: „Oh lass diesen Kelch an mir vorübergehen!“ No chance!
Zum Konflikt zwischen Wollen und Können kommt ein Generationenkonflikt. Wie ein Bereichsleiter in einem Großunternehmen mutmaßt: „Die Jungen können das alle und wir über 35 schauen alt aus!“ Das ist kein Konflikt, das ist die Götterdämmerung der Unternehmenskultur. Plötzlich gilt nicht mehr wie seit 200 Jahren das Prinzip der Seniorität: Wer älter ist, hat mehr zu sagen. Sondern umgekehrt: Youth is truth! Komplette Hierarchien werden auf den Kopf gestellt: Nicht mehr die grauen Eminenzen auf der Teppichetage wissen, was die Stunde geschlagen hat, sondern die blutjungen, unerfahrenen, hierarchisch untergeordneten Digital Natives. Das zerreißt Firmen. Eben: Disruption. Wobei …
Eben nicht alle. Es gibt auch Unternehmen, in denen ich genau das Gegenteil höre: „Wir über 35 kennen uns doch mit dem digitalen Zeugs nicht mehr aus. Aber die Jungen! Die haben das voll drauf und helfen uns jetzt aus der Patsche.“ Es gilt nicht mehr: Ober sticht Unter. Sondern: Unter coacht Ober. In vielen Firmen ist das nicht möglich.
Weil sich die alten Hierarchen nichts sagen lassen von den jungen Digital Natives. Sie fürchten den Status- und Machtverlust. Sie hängen am alten Paradigma von Command&Control. Und wieder erkennen wir: Wenn Unternehmen vom digitalen Wandel überrollt oder von der Konkurrenz digital überholt werden, sind dafür selten technologische oder finanzielle Gründe maßgeblich. Sondern Kultur und Kommunikation. In anderen Worten: Charakter.
Wenn meine Furcht vor unliebsamer Konkurrenz aus den Tiefen der untersten Hierarchieebenen mich stärker regiert als mein Engagement für die Ziele des Unternehmens, dann wird mich kein 3-Wochen-Kurs für Digital Readiness in Cloud Computing, 3D-Druck, Internet of Things oder Augmented Reality für die digitale Welt enablen können. Weil ich das charakterlich nicht abkönnte. Deshalb dauert die Digitalisierung in vielen Unternehmen so lange. Nicht aus technischen Gründen. Die Technologie ist schon lange da. Sondern aus menschlichen Gründen. Die Digitalisierung ist mehr eine Charakterfrage als eine technologische Herausforderung.
Und so werden die Marktführer des digitalen Zeitalters nicht die größten, finanzstärksten und innovativsten Unternehmen sein, sondern jene mit der größten Menschenkompetenz. Ein seltsames Wort. Seltsamer noch, dass es kein besseres dafür gibt. Denn in diese Richtung denken und managen wir nicht. Wir sehen den Mann an der Rampe, der über das neue Digital Device flucht oder seine Datenbrille nicht versteht. Aber wir begegnen seinen Vorbehalten mit Anweisung und Druck, statt mit der Kompetenz, seine menschlichen Vorbehalte, Zweifel und Probleme wahrzunehmen, anzuerkennen und angemessen zu behandeln.
Die Digitalisierung ist etwas ganz Neues, das uns auf etwas ganz Altes hinweist: Die tollste Technik ist schnell gar nicht mehr so toll, wenn wir Menschen nicht uns Menschen dafür begeistern und befähigen können. Können wir das jedoch, können wir sehr viel mehr als „bloß“ Digitalisierung. Digitalkompetenz ist die Zukunft. Menschenkompetenz ist die Zukunft der Zukunft.