Das Internet kennen wir. Was aber ist das Physical Internet, wörtlich: das Physische Internet?
Das ist ein relativ neues Konzept. Es tauchte erst vor wenigen Jahren zum ersten Mal in der Literatur auf. Und es will wörtlich genommen werden.
Im Internet, wie wir es kennen, werden Daten transportiert. Also etwas, das man nicht anfassen kann. Im Physical Internet wird, wie der Name schon verrät, etwas transportiert, das wir anfassen können und wollen (weil wir es zum Beispiel bestellt haben): Päckchen, Pakete, Online-Bestellungen, ganze Paletten und Container … Anfassen oder nicht – das ist ein kleiner Unterschied, der den großen Unterschied macht.
Denn bislang galt: Wenn ein Hersteller oder Händler, sagen wir ein Paar Turnschuhe, das Sie bestellt haben, verschicken möchte, dann sucht er sich einen Transport-Dienstleister, verhandelt mit ihm über Preis und Konditionen und schickt die Schuhe dann raus an Sie. Im Physical Internet läuft das anders. Da verhandelt der Hersteller nicht mit einem Spediteur, sondern gibt seine Anfrage nach Transport einfach ins weltweite Physical Internet mit seinen Tausenden Spediteuren und Logistikdienstleistern. Dieses Netz sucht dann entlang gewünschter Parameter (Preis, Schnelligkeit, Nachhaltigkeit …) die beste Transportlösung für jeden Streckenabschnitt. Und die beste Lösung muss nicht ein einziger, ununterbrochener Transport von der Firma zum Kunden sein.
Die beste Netzlösung könnte auch sein, dass die Strecke in mehrere Etappen zerlegt wird, auf denen dann jeweils der bestmögliche Spediteur die Fracht übernimmt. Aber das ist ja viel umständlicher?
Das scheint nur so und das ist das Geniale am Physical Internet: Warum sollte ein LKW in einer einzigen Tour vom Überseehafen in Bremerhaven, wo die neuen Turnschuhe aus China anlanden, bis zum Kunden nach, sagen wir, Kempten fahren, möglicherweise halbleer, weil in Kempten gerade nicht so viele Leute neue Turnschuhe bestellt haben? Wenn man die Schuhe alternativ auch mit drei, vier Zwischenstopps in jeweils proppenvollen Lastwagen transportieren könnte? Das wäre doch viel effizienter, nachhaltiger, verpestet die Luft nicht so heftig und erspart es einer Riesenflotte an LKW, ständig halbleer durch die Landschaft zu dieseln. Wie wir schon öfter gesagt haben: Mehr als 20 Prozent aller LKW, denen wir im Straßenverkehr begegnen, sind komplett leer. Und von den beladenen 80 Prozent sind nur die Hälfte komplett voll. Was für eine Riesenverschwendung. Und wir wundern uns, warum die Luft so schlecht ist? Oder die Autobahnen und Innenstädte verstopft?
Das Physical Internet löst diese ganze Effizienzkatastrophe, indem es nicht nur gemeinsam transportieren, sondern auch gemeinsam lagern lässt. Die einzelnen Hersteller und Händler nutzen nicht nur ihre LKW gemeinsam, sondern auch ihre Waren- und Auslieferungslager. Damit nicht jeder Hersteller und Händler in den einschlägigen Industriegebieten ein eigenes Lager bauen und zum galoppierenden Flächenverbrauch und Landschaftsverschleiß beitragen muss. Es ist schon viel zu viel unserer schönen Landschaft zubetoniert und asphaltiert worden. Außerdem werden Wohnungen dringender gebraucht als noch ein Auslieferungslager. Das Physical Internet macht’s möglich!
Und jetzt die schlechte Nachricht: Das Physical Internet ist eine tolle Idee – aber leider bislang genau das: eine Idee. Wobei: Eine Idee, an deren Verwirklichung gearbeitet wird. Die EU unterstützt mehrere Pilot-Projekte in ganz Europa, an der auch viele Unternehmen beteiligt sind.
Das größte Hindernis dabei: Die etablierten Logistikdienstleister wollen das nicht unbedingt. Kein Wunder. Jeder von ihnen hat sein eigenes Netz. Warum sollte er es mit anderen teilen? Sharing? Wessen Hauptkapital das eigene Auslieferungsnetz mit seiner Infrastruktur aus Flotte, Fahrern, Disponenten und Lagerhäusern ist, der möchte das nicht mit der Konkurrenz sharen. Oder Teile davon aufgeben, weil wenn alle dasselbe weltweite Netz benutzen, viele parallel existierende und jeweils nicht voll ausgelastete Netzteile überflüssig werden. Doch genau daran arbeiten EU-Projekte wie ALICE, das bis 2030 ein europaweites Physical Internet etablieren möchte. Behaupte niemand, die EU würde sich nur um die vorgeschriebene Krümmung von Bananen kümmern …
Wenn solche Projekte Erfolg haben und irgendwann jedes Päckchen, jede Palette, jeder Container im Physical Internet verschickt wird, dann wird die Luft schlagartig besser, die Autobahnen leerer, die Innenstädte entlastet, die Staus kleiner. Oder sie verschwinden. Und wir kriegen unsere Bestellungen und Waren immer noch so schnell wie jetzt; wenn nicht schneller. Weil dann endlich nicht jeder beim Versenden von Waren sein eigenes Süppchen kocht und damit irrsinnige Überkapazitäten, Parallelstrukturen, unnötige Konkurrenz und galoppierende Umweltverschmutzung produziert. Sondern alle im selben physischen Internet ihre Waren ausliefern. Dann wächst zusammen, was zusammen gehört.