Kurzsichtig? Oder schon zukunftsblind?

Wer im Sommer auf deutschen Autobahnen unterwegs war, war von den vielen Baustellen beeindruckt. Positiv oder negativ?

Positiv beeindruckt wurde, wer sich freute, dass jetzt endlich ein neuer Belag verlegt wurde. Negativ, wer erkannte, dass es nur aus einem einzigen Grund so viele Baustellen sind: Weil viel zu lang mit der Erneuerung gewartet worden war. Und nicht nur auf der Autobahn.

Deutsche Schulen wurden in den letzten Jahren derart schlankgespart, dass sich inzwischen schon der Putz vor Frust von den Wänden schmeißt. In vielen Regionen Deutschlands fahren IT-Supporter mit USB-Sticks zu ihren Firmenkunden, weil es Stunden dauern würde, die Software-Updates für ihre Anlagen und Maschinen übers langsame Internet aufzuspielen. Dass wir uns hierzulande beim schnellen Internet international haben abhängen lassen, trifft vor allem die Stützen der deutschen Wirtschaft, die Hidden Champions im Mittelstand und auf dem flachen Land. Business Hotels verlieren die Kundschaft von Vertretern, Verkäufern, Außendienstlern, Monteuren und Handlungsreisenden, weil diese abends schnelles Internet brauchen, das Hotel aber keines hat. Die Misere hat einen Namen: Investitionsstau. Und der Name hat eine Zahl. Was schätzen Sie?

Wie groß ist der öffentliche und private Investitionsstau hierzulande bis, sagen wir, zum Jahr 2025? Die Unternehmensberatung Ernst & Young schätzt ihn auf 1,4 Billionen Euro. Das sind 1400 Milliarden. Un-vor-stell-bar. Und quartalsweise erscheinen neue Zahlen zu dem, was wir investieren müssten, es aber nicht tun. Pikant dabei ist: Während solche Studien errechnet und erstellt werden, sollte man diese Zeit nicht besser nutzen, um wirklich zu investieren, anstatt die Investitionsverweigerung ständig neu zu berechnen? Einmal ganz von der Zeit abgesehen, die wir mit Genehmigungsverfahren verlieren, die sich jenseits jedes menschlichen Verständnisses ausgedehnt haben.

Jeder LKW, der im Stau steht und nutzlos Zeit verliert, anstatt an der Rampe seine Ware abzuliefern, verursacht einen wirtschaftlichen Schaden. Jeder Pendler, der für eine 30-Minuten-Wegstrecke eine Stunde braucht, verschwendet eine halbe Stunde produktiver Arbeitszeit (oder Familienzeit). Die meisten Menschen, und zwar Politiker wie Wähler gleichermaßen, sehen immer nur, was das nächste Infrastrukturprojekt kosten würde. Was es kostet, wenn und solange es nicht gestartet wird, das rechnet so gut keiner(r) öffentlich oder medial gegen. Dabei bedeutet der Begriff „Investition“ ja gerade: Ich kriege mehr als ich bezahle; gemeinhin als Return on Investment bekannt. Wer investiert, kassiert. Nämlich eine Rendite. Wer nicht investiert, weigert sich ärmer. Vor allem an Zukunftsperspektive. Nur wenige verstehen das.

Zum Beispiel Flughafenbetreiber. Wenn sie einen neuen Belag auf der Landebahn brauchen, dürfen sie nicht warten, bis Schlaglöcher sich auftun. Sie können die Landebahn auch nicht einfach sperren. Also lassen sie den Belag nachts erneuern, wenn wenig Flugverkehr ist. Das ist die Ausnahme. Die Regel vor allem im öffentlichen Vergabewesen ist: Den Zuschlag kriegt der günstigste Anbieter. Nicht der schnellste. Also wird auf der Autobahn wochenlang eine Fahrbahn gesperrt, die Baumaschinen werden geparkt – aber kein Arbeiter ist zu sehen, weil man erst noch andere Baustellen abarbeitet. Das soll angeblich Steuergeld sparen. Das stimmt. Trotzdem kostet es. Wohlstand, Wachstum und Zukunft. Weil der Schaden durch langsame Ausführung in vielen Fällen größer ist als die Ersparnis durch die Vergabe an den Billigsten und leider oft Langsamsten.

Studien zeigen: Eine staatliche Investitionsschwäche zieht eine private Investitionsschwäche nach sich. Wenn der Staat nicht ins schnelle Internet investiert, investiert der Hidden Champion nicht in neue Maschinen, deren Software-Updates auf schnelles Internet abgestellt sind. Die kleine Fabrik auf dem Lande vergrößert nicht, weil sie auf ihrer unausgebauten Bahnstrecke das gesteigerte Volumen nicht abtransportieren könnte. Investiert der Staat, investieren die Privaten; man nennt das auch „positive externe Effekte von öffentlichen Gütern“.

Alle reden von der schwarzen Null im Bundeshaushalt. Wenn man sich, uns und die Infrastruktur zu Tode spart, ist das keine Kunst. Wer bei Milliarden und Abermilliarden Investitionsstau eine schwarze Null schreibt, hat keinen ausgeglichenen, sondern einen anorektischen Haushalt. Warum spart sich eine Nation sehenden Auges zu Tode?

Weil Investitionsprojekte keine (starke) Lobby haben und für Wähler nicht sexy genug sind. Das ist keine verzeihliche menschliche Schwäche, das ist ein Konstruktionsfehler des Homo Sapiens, den die beiden Nationalökonomen Pigou und von Böhm-Bawerk „Defective Telescopic Faculty“ nannten: Wenn man uns heute einen Euro vor die Nase hält, halten wir den Euro für einen Euro. Verspricht man uns denselben Euro jedoch in einem Jahr, halten wir ihn, grob gesprochen, nur noch für 80 Cent. Natürlich ist das Unfug. Euro bleibt Euro. Doch unser Teleskop in die Zukunft ist eben defekt, unsere Wahrnehmung funktioniert nicht, wir leiden unter einem Bias, einer Denkverzerrung.

Wir sehen dann nicht mehr, dass ein Euro heute in Infrastruktur investiert, in der Zukunft nicht nur einen Euro, sondern 1,50 Euro wert ist. Wir sehen nicht mehr, dass es sich rentiert, in die Zukunft zu investieren. Wir sehen nicht, dass sich das auszahlt. Eher langfristig, aber dann umso lohnender.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert