Stell dir vor, es ist Revolution – und keiner geht hin. Gegenwärtig reden alle von der Digitalisierung, der digitalen Transformation, der Disruption, dem IoT, ja gar der „Digitalen Revolution“. Technologisch ist der Begriff von der Revolution sicher gerechtfertigt. Aber was ist das für eine Revolution, bei der weniger Leute mitmachen als bei der aktuellen Frühjahrsmode?
Vorneweg die gute Nachricht: Wir, die vereinigten Konsumenten aller Länder der Welt, sind schon voll digital. Aber sowas von. Ein Click – und die Welt liegt uns per Premium-Versand im Päckchen-Format zu Füßen. Noch eine gute Nachricht: Die Logistik-Branche nimmt (nicht nur wegen 1-Click-Bestellung und Premium-Versand) im Branchenvergleich eine Vorreiterrolle ein, was die Digitalisierung angeht. Das, was zwischen uns, den Herstellern und dem Handel abläuft, ist schon stark digitalisiert. Weniger stark ist das Bild in den Branchenunternehmen selbst.
Das zeigt eine hoch aktuelle Studie (im Dezember letzten Jahres veröffentlicht) von Cap Gemini. Es wurden Unternehmen vieler Branchen befragt. Die Ergebnisse sind, vorsichtig ausgedrückt, überraschend und ernüchternd.
Laut dieser Studie betrachtet die Hälfte der befragten Unternehmen die Digitalisierung der eigenen Supply Chain als eine der Top3-Prioritäten. Die Hälfte. Experten und Medien reden uns seit geraumer Zeit ein, dass die Digitale Revolution ein Sturm ist, der alle erfasst. Was ist das denn für eine Revolution, bei der nur die Hälfte mitmacht? Verglichen mit dem Hype, der seit Monaten rund um die Digitalisierung entfacht wird, ist das ja wohl ein Witz. Die Pointe geht noch weiter.
Von dieser Hälfte der Unternehmen, die die Digitalisierung ernst nehmen, schaffen es 86 Prozent nicht, ihre Digitalprojekte über die Testphase hinaus zu retten. Umgekehrt bedeutet das: Wenn nur 14 Prozent von 50 Prozent das schaffen, dann sind es lediglich 7 Prozent von allen, bei denen die Digitalprojekte die Testphase überleben. Sozusagen eine 7%-Revolution. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Das ist keine Revolution, das ist noch nicht einmal ein Trend. Das ist ein statistisch insignifikantes, nicht generalisierbares Nischenphänomen von so begrenzter Bedeutung, dass die weitläufige und geradezu hysterische Berichterstattung nur mit weitgehendem Realitätsverlust in Begleitung journalistischer Sensationslust erklärt werden kann.
Andererseits sind die 7 Prozent die perfekte Erklärung dafür, warum andere Nationen uns derzeit digital derart einseifen. Bei denen sind garantiert nicht bloß 7 Prozent digital unterwegs.
In derselben Umfrage gaben 77 Prozent der Befragten an, dass sie mit ihren Investitionen in die (digitale) Lieferkette hauptsächlich Kosteneinsparungen erzielen möchten. Das ist ein naheliegender Gedanke, jedoch das Gegenteil einer „Digitalen Revolution“. Die digitale Transformation ist ihrer Natur nach nicht in erster Linie ein Effizienzinstrument.
Wäre sie es, dann wäre es auch sinnvoll, mit einer S-Klasse den Mist vom Bauernhof auf den Acker zu fahren: Das geht, ist aber nicht Daseinszweck einer S-Limousine. Anschauungsbeispiel ist die 1-Click-Bestellung: Sie hat sicher auch Kosten reduziert und Effizienz gesteigert. Doch vor allem hat sie eine imposante Umsatzsteigerung eingespielt. Die größte Chance der Digitalisierung liegt demgemäß nicht im Kostensparen, sondern im Umsatzsteigern, in der Schaffung neuer, digitaler Prozesse, Bestell-, Steuerungs- und Zahlvorgänge und in der Eroberung komplett neuer Geschäftsmodelle.
Die Umfrage zeigt auch, dass die durchschnittliche Amortisationsdauer der Automatisierung von Lieferketten lediglich 12 Monate beträgt. Das ist extrem kurz für Projekte dieser Größenordnung. Es wäre also überragend rentabel, zu digitalisieren und zu automatisieren. Wenn man es richtig macht. Da liegt die Crux.
Es gibt bislang noch sehr wenige, die es richtig machen. Warum? Auch diese Frage beantwortet die Studie: Unternehmen, die bislang scheitern oder nur langsam vorankommen, nehmen sich bei der Digitalisierung zu viel auf einmal vor, konzentrieren sich nicht auf strategische Prioritäten, planen mithin nicht wirklich gut und verzetteln sich in der Folge. Nicht umsonst lautet der Titel der zitierten Studie: „The Digital Supply Chain’s Missing Link: Focus“.
Technologischer Wandel im Zeitalter der ADHS-Störung: Wir haben eine überragende Technologie – aber wir können uns nicht konzentrieren. O saeculum!