Wenden wir uns heute einer der schlimmsten Süchte des 21. Jahrhunderts zu: Wie lange werden Sie heute wieder auf Ihr Smartphone starren?
Laut einer Telefónica-Studie (2019) werden es auch heute wieder im Schnitt 2,1 Stunden sein. Bei jüngeren Nutzerinnen und Nutzern sind es gar vier Stunden.
Das meiste dieser Zeit verbringen/vergeuden wir in den sozialen Netzwerken und für Musik, Videos, Chats und Shopping. Manchmal reicht uns selbst das noch nicht zur Zerstreuung und wir schauen nebenher noch fern, was sich „Second Screen-Nutzung“ nennt oder umgangssprachlich: die komplette Reizüberflutung, Stimulus Overkill. Kein Wunder, dass jetzt ein Gegenmittel auf den Markt kommt: BoringPhone – The Minimalist Smartphone.
Wir dürfen uns höchstens wundern, warum erst jetzt jemand auf die Idee mit dem BoringPhone, dem total langweiligen Bruder des gar nicht so klugen Smartphones kommt. Slogan des neuseeländischen Start-ups, das sich das BoringPhone ausdachte: Get Your Life Back! Get Out of Your Phone and Into Your Life!
Das BoringPhone ist der Gegenentwurf zum Smartphone. Im Gegensatz zum Smartphone schädigt es uns nicht. Mediziner fanden zum Beispiel heraus, dass jüngere Menschen durch die unnatürliche Körperhaltung beim Smartphone-Daddeln quasi Hörner am Schädelknochen des Hinterkopfes bekommen, wo die Muskeln besonders hart arbeiten müssen, um den schweren Kopf zu halten. Im Kopf selber wird durch die fortgesetzte Handy-Nutzung ständig Dopamin ausgeschüttet, das Belohn- und Glückshormon. Das ist doch was Gutes?
Für den Moment ja, auf Dauer leider nein. Denn Dopamin wird auch bei Alkohol- und Zigarettenkonsum ausgeschüttet. Kommt man nicht mehr ohne aus, liegt es weder an den Zigaretten noch am Alkohol, sondern daran, dass man abhängig wurde von der Droge Dopamin. Spielsüchtige sind süchtig, weil beim Spielen ebenfalls ständig Dopamin ausgeschüttet wird. Was wir brauchen, ist ein langweiliges Handy.
Die Neuseeländer crowdfunden derzeit via Kickstarter genügend Geld zusammen, um ihr Handy in Massenproduktion herzustellen. Ein Handy, das nur mit Basisfunktionen ausgeliefert wird: Telefonieren, Nachrichten schreiben (über Signal, nicht über Whatsapp), Kalender, Wecker, Photos, Videos. Ohne eine Möglichkeit, in die sozialen Medien zu gehen. Man bekommt auch keine Push-Nachrichten. Das BoringPhone ist für das Smartphone, was Methadon für Heroin ist: Ersatzdroge für einen gezielten Entzug, der nicht so schmerzhaft ist wie Cold Turkey (abruptes Absetzen der Droge).
Es ist das ideale Arbeits-Handy: Die Mitarbeiter und Manager bleiben bei der Arbeit und werden nicht ständig von dem ganzen Mist abgelenkt, der sekündlich auf einem „normalen“ Handy einläuft und uns piepsend und jaulend um Aufmerksamkeit anpumpt. Ideal ist das neue Handy auch für Minderjährige a) weil keine User-Daten abgegriffen werden können, b) um den digitalen Fußabdruck in jungen Jahren möglichst schlank zu halten und c) damit unsere Kinder nicht bereits in den formativen frühen Jahren angefixt werden können.
Auch nach Kauf und regem Gebrauch bleibt das minimalistische Handy der Drogen-Metapher treu: Man kann das Handy dann auf ein ganz normales Handy zurückstellen, wenn man seine Sucht überwunden hat. Das ist möglich, sobald der User einen bestimmten Abstinenzgrad erreicht hat. Aktuell funktioniert das Freischalten nur über den Postweg.
Google Maps läuft nicht auf dem neuen Handy, es hat keine Karten, keine Navigation, kein Whatsapp, kein Youtube, kein Streaming und damit kein Binge Watching. Die Verkaufszahlen des neuen Handys dürften interessant sein (sobald es wie vorgesehen im Dezember auf den Markt kommt): Wie reformwillig ist die süchtige Bevölkerung noch oder schon? Und bezahlt die AOK so ein Handy, wie sie auch Methadon-Programme bezahlt? Welcher Arzt stellt das dafür notwendige ärztliche Attest mit der Suchtbestätigung aus? Und sind im Digitalpakt der Bundesregierung für unsere Schulen noch die alten Suchtmittel drin oder bereits essenzialistische Boring Devices? Soll man seinem Kind nur noch ein BoringPhone kaufen?
Interessant auch, wie viele Erwachsene tatsächlich über den eigenen Schatten springen und sich eingestehen können, dass sie süchtig sind und Hilfe brauchen. Reicht die Einsicht? Oder muss der Gesetzgeber das Ersatzmittel zwangsverschreiben?
Die softe Vorstufe zum harten Entzug via Minimal-Handy sind übrigens Wellbeing-Apps, die anzeigen, wie viele Stunden wir heute schon wieder sinnlos rumgesurft sind. Manche dieser Apps schaffen nicht nur die wünschenswerte Transparenz, sondern blockieren auch andere Apps, auf denen wir uns süchtig regelmäßig verdaddeln.
Was wir bei all dem nicht vergessen dürfen: Es gibt auch Menschen, die ihr Smartphone nutzen – und nicht umgekehrt. Menschen, die nicht wie das hypnotisierte Kaninchen stundenlang aufs Handy starren. Für jene, die lieber vor die Tram laufen als den Blick vom Smartphone zu nehmen, ist das neue Handy gedacht. Warum sollten sie viel Geld für etwas ausgeben, das viel weniger kann und zulässt als ein „echtes“ Handy?
Weil der übliche Handy-Süchtige immer mehr Zeit am Handy und immer weniger damit verbringt, in der echten Welt etwas zu tun, zu erleben – zu leben. Das BoringPhone befreit von der Sucht und gibt einem das eigene Leben zurück. Dafür ist sein Preis nicht nur günstig, sondern geradezu ein Schnäppchen.