Wir alle tun’s. Wir bestellen online, als ob morgen das Geld verboten würde. Wir bestellen, der Online Shop liefert aus und wer stellt zu?
Es sind im Großen und Ganzen fünf marktbeherrschende Transportunternehmen. Wir kennen sie alle. Ihre Kleintransporter-Flotten prägen das städtische Verkehrsbild an jedem Arbeitstag. Ihre Fahrer liefern ein Bild des Jammers, wenn man genau hinschaut.
Natürlich: Es gibt Gesetze, zum Beispiel zum Mindestlohn. Doch wenn man für acht Stunden mit Mindestlohn bezahlt wird, jedoch tatsächlich 12 oder gar 16 Stunden (in echt, kein Witz) täglich fährt und rennt und ausliefert, dann reduziert sich das Salär auf einen effektiven, tatsächlichen Stundenlohn zwischen 4,50 und 6 Euro. Quizfrage: Wer von uns würde für 5 Euro die Stunde arbeiten?
Noch nicht einmal Ferien-Jobber. Übrigens: Wann haben Sie überhaupt schon mal oder das letzte Mal einem dieser Paket-Sklaven an der Haus- oder Wohnungstür ein Trinkgeld zugesteckt? Es gibt Menschen, die tun das! Jedoch: Als krasse Ausnahme, wenn man mal mit Paketboten redet. Die meisten bekommen weder Trinkgeld noch Dankeschön, sondern werden angemeckert, nachdem sie drei Etagen mit einem sperrigen Paket hochgestiegen sind: „Warum kommen Sie erst jetzt? Ich warte schon seit gestern auf die Zustellung!“
Die meisten Online-Junkies lehnen übrigens die milde Gabe an der Tür kategorisch ab: „Wenn ich was bei X bestelle, dann ist das deren Sache, die Paketboten gescheit zu entlohnen!“ Der Online-Käufer an sich hat null Ahnung, dass die Liefersklaven nicht von Amazon oder adidas, sondern von Transportunternehmen (schlecht) bezahlt werden.
In nackten Zahlen: Der Anteil der Niedriglöhner ist in der Paketbranche doppelt so hoch wie im Durchschnitt aller anderen Branchen. Wie hoch schätzen Sie ihn? Worauf tippen Sie?
Der Anteil liegt bei fast 50 Prozent. Der durchschnittliche Monatslohn liegt um 25 Prozent niedriger als in der ganzen anderen Wirtschaft – und in diesem Durchschnitt sind statistisch noch die Gehälter von Geschäftsführern und leitenden Angestellten mit drin. In anderen Worten: Von dem, was er dabei kriegt (nicht „verdient“, verdient hätte er mehr), kann der arme Kerl (gibt es auch Frauen darunter?) mit dem Paket in der Hand nicht leben, geschweige denn in einer Großstadt zur Miete wohnen. Er ist ein moderner Lohnsklave. Nicht in irgendeinem tausende Kilometer entfernten Schwellenland, sondern hier, im wörtlichen Sinne direkt vor Ihrer und meiner Haustür. Nicht umsonst kommen sehr viele Paketboten bestimmter Lieferdienste aus dem Osten oder Süden Europas. Sie muten sich noch zu, was eigentlich unzumutbar ist.
Deshalb führten im Februar letzten Jahres auch rund 3.000 Zollbeamte eine Razzia bei den Sub-Unternehmern der Paketdienste durch. 12.000 Fahrer von 365 Unternehmen wurden kontrolliert. Bei 2.000 Kontrollen wurden größere Ungereimtheiten entdeckt, das entspricht 17 Prozent der Kontrollierten. Größtenteils wurden dabei Unterschreitungen des Mindestlohns (wie kann man diesen unterschreiten und sich morgens noch im Spiegel ansehen?) entdeckt und auch Fahren ohne Führerschein (!), gefälschte Pässe, Schwarzarbeit und Sozialleistungs- und -versicherungsbetrug. Überspitzt gesagt: Wer online bestellt, macht sich praktisch der Mittäterschaft schuldig.
Natürlich gibt es Ausnahmen. DHL und UPS zum Beispiel arbeiten fast ausschließlich mit eigenen Angestellten – also ohne Sub-Unternehmer – die nach Tarif bezahlt werden und sozialversichert sind. Das Problem liegt tatsächlich bei den Sub-Unternehmen. Wenn wir als gewissenlose Online-Konsumenten also schon nicht unserem Bestell-Wahn entsagen können, dann schauen Sie doch einfach das nächste Mal (vor dem Bestell-Klick) nach, welcher Lieferdienst Ihre Bestellung an die Tür bringt. Online Shops, Versender und Händler reagieren durchaus auf den Zorn der Straße. Immer wieder wird bekannt, dass ein Versender seinen Paketdienst gewechselt hat, weil es Irrsinn ist, mit CO2-neutraler Auslieferung zu prahlen, während man abgerissene Gestalten mit faustdicken Rändern unter den Augen an die Haustüren schickt. Nachhaltigkeit besteht aus einer ökologischen, sozialen und ökonomischen Komponente. Warum bloß protestieren wir fürs Klima und nicht für die Zusteller vor unserer Tür? „Bei denen bestell ich nix mehr“, sagte unlängst eine Bekannte, „wenn ich denselben Artikel für wenig mehr auch bei X bekomme, denn X hat einen Paketdienst, der seine Leute anständig bezahlt. Ich will schließlich keine Sklavenhalterin sein.“ Wer wollte das schon? Millionen KonsumentInnen.
Weil man sich auf uns KonsumentInnen eben nicht verlassen kann, hat der Gesetzgeber im November 2019 das Paketboten-Schutz-Gesetz verabschiedet. Wichtigster Punkt, den es regelt: die Nachunternehmer-Haftung. Die Regelung besagt: Wer den Auftrag zur Paket-Auslieferung annimmt, ist für anständige Arbeitsbedingungen der Fahrer verantwortlich – auch der Fahrer des Sub-Unternehmens. Früher war das nicht so. Früher haftete das oftmals äußerst flüchtige Sub-Unternehmen. Jetzt haftet der Große und an den Großen kommt man mit Kontrollen eher ran. In der Fleischwirtschaft und der Baubranche ist das übrigens schon länger so.
Das Gesetz fördert den fairen Wettbewerb, beseitigt Marktverzerrungen und schützt ehrliche, anständig bezahlende Unternehmen vor ausbeuterischen Billigheimern. Wenn der Markt versagt, muss halt der Staat eingreifen. Sein Eingreifen tut Not.
Denn in diesem Jahr wird die Menge der versandten und zugestellten Paketsendungen hier in Deutschland auf – was schätzen Sie? Sie kommen nie drauf. Die Menge wird voraussichtlich auf vier Milliarden steigen – in einem einzigen Jahr und Land und einer der aktuell am schnellsten wachsenden Branchen, die deshalb heftig unter Personalmangel leidet. Wie Hermes-Chef Olaf Schabirosky sagt: „Der Arbeitsmarkt ist leergefegt.“ Deshalb werden hierzulande so viele Fahrer aus Süd- und Osteuropa beschäftigt. Doch auch sie sind nicht gerne Paket-Sklaven. Tun wir was dagegen!
Sprengt die Ketten! Befreie deinen Paket-Sklaven! Viele, die online bestellen, haben keinen blassen Schimmer, wie mies viele Fahrer bezahlt werden und welchem Stress sie ausgesetzt sind. Deshalb regelt der Markt das bislang auch nicht. Wer weiß, kann handeln. Jetzt wissen wir’s. Handeln wir!