Die Vereinten Nationen haben bereits 2015 sogenannte Sustainable Development Goals (SDG), Nachhaltigkeitsziele, verabschiedet. Sämtliche 195 Mitgliedsstaaten der UN haben sie unterzeichnet. Diese SDG’s sind eine Art Kompass für die weltweite wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung, für Nachhaltigkeit, Zukunftsmanagement, globale Herausforderungen, Innovation, Ressourcennutzung, Umwelt- und Klimapolitik im Besonderen und die Politik der Regierungen im Allgemeinen.
Entwickelt wurden diese 17 Ziele als Erweiterung zu den bereits im Jahr 2000 verabschiedeten Millenniumszielen. Damals stand der Kampf gegen die Armut im Vordergrund, jetzt haben die UN die Nachhaltigkeit stärker in den Fokus gerückt.
Bis 2030 sollen die SDG’s erreicht werden, Ende letzten Jahres zog man eine Zwischenbilanz – wie in jedem gut gemanagten Projekt: Meilenstein. Leider wurde der Meilenstein verfehlt. Wären die Nachhaltigkeit und das Klima das Projekt eines ehrgeizigen Mittelständlers, dann hätte dessen Chefbuchhalter nach diesem verfehlten Meilenstein eine Katastrophen-Totalabschreibung des Projekts mit sofortiger Verschrottung und Ausschlachten der noch brauchbaren Teile empfohlen, bevor das fehlgegangene Projekt den ganzen Laden in die Insolvenz reißt. Natürlich sagt das die UN nicht so.
Bei der UN arbeiten höfliche Leute, weshalb Generalsekretär Guterres in der Art eines wohlerzogenen englischen Butlers kommentierte: „We are far from where we need to be. We are off track.“ Eine Metapher, die eine aktive Mitarbeit von Lesern/Hörern erfordert: Man stelle sich zum Beispiel einen D-Zug vor, der „off track“ also entgleist ist oder einen Golf, der in voller Fahrt von der Autobahn abkommt und das Bankett rechts der Fahrbahn umpflügt.
Auch die Bundeskanzlerin sprach gewählte Worte und betonte, dass wir noch gut zehn Jahre Zeit hätten und bis dahin ein gewaltiges Stück zurücklegen müssten, mithin also schneller werden und mehr tun müssten. Wir können uns fast phonetisch den Wortlaut der Bundespressekonferenz vorstellen, wenn die Ressourcen einmal komplett verbraucht und das Klima total versaut sein wird – in etwa: „Wir bitten Sie um Verständnis, dass es auf den Autobahnen rund um Dortmund zu geringfügigen Verkehrseinschränkungen wegen dreistöckiger Wanderdünen kommen kann.“
Natürlich hat die C-Krise das längerfristige Überleben der Spezies aus den Schlagzeilen verdrängt – und Ressourcen und Klima geschont: weniger Verkehr, kaum noch Flugzeuge in der zusehends aufklarenden Luft, weniger Produktion (abgesehen von Klopapier und Schutzausrüstung). Doch nach der Krise, wann immer das sein wird, rauchen die Schlote wieder. Wir sollten keine Viren-Krise nötig haben, um unser abwendbares Schicksal abzuwenden. Vieles, worauf wir in der Krise notgedrungen verzichtet haben, ist auch nach der Krise nicht lebensnotwendig.
Müssen wir etwa zweimal im Jahr nach Übersee in den Urlaub fliegen? Und wer zwingt uns, wochenends mit unseren SUV’s die Landstraßen verstopfen? Überhaupt: SUV’s? Ist das Bike als Fortbewegungs- und Freizeitmittel nach der Krise nicht ebenso attraktiv wie in der Krise? Eine Fünftklässlerin hat ihren Eltern eine Liste mit zehn in der C-Krise eingeführten Dingen und Alternativen überreicht, die Geld, Klima und Ressourcen sparen, und die sie auch nach der Krise beibehalten möchte. Darunter „mit dem Rad zur Schule“, „nur noch einmal die Woche zum Einkaufen“ oder auch „nicht jede Woche neue Klamotten online bestellen“. Mir ist weder bekannt, ob die Eltern mit einer ähnlichen Liste oder überhaupt mitgemacht haben. Ich würde mich freuen, wenn mir möglichst viele solcher Listen zugesandt würden. Denn nötig haben wir es.
Vor allem wegen eines Phänomens, das die meisten von uns noch immer nicht auf der Liste haben: externe Effekte. Bei Zielen wie „Hochwertige Bildung“ kommen wir Industrieländer den SDG’s schon sehr nahe, doch unsere Konsumvorlieben und unser Lebensstandard verursachen den Schwellenländern hohe Kosten. Wir exportieren, externalisieren die schlimmsten Kosten unseres kollektiven Konsumkollers.
Seit wir zum Beispiel unsere Schnitzel nicht mehr mit heimischen Ölen und Fetten braten, sondern mit Kokosöl, wird der bereits durchs Palmöl dezimierte Regenwald noch stärker abgeholzt. Wenn einer sein Schnitzel in die Pfanne haut und deshalb im Regenwald ein Baum fällt – wer hört’s? Wer braucht sowas? Großmutter benutzte noch Schweineschmalz – war das so verkehrt? Hat Omi alles falsch gemacht? Leiden wir noch heute unter Schmalzvergiftung?
Wir produzieren enorme externe Kosten mit dem, was wir konsumieren. Unser überzüchteter Lebensstandard ist der Ruin ferner Länder, von Vegetation und Klima. Muss man das erst als Schulfach einführen, bevor wir das kapieren und unseren Konsum ändern?
Was in fernen Ländern nicht produziert werden muss, kann dort auch keinen Schaden anrichten. Lasst die Landwirtschaft dort doch die hungernde Bevölkerung ernähren! Ein Viertel der weltweiten Treibhausgas-Emissionen geht auf die Bodenbewirtschaftung zurück. Und ein Drittel der weltweiten landwirtschaftlichen Ernte landet im Müll oder wird ungenutzt entsorgt – obwohl 800 Millionen Menschen als unterernährt gelten. Wie sagte Großmutter noch? Nichts wird weggeschmissen! Wir werfen nichts weg. Oder wir verteilen es so, dass keine 800 Millionen hungern müssen.
Ein Sprichwort sagt, dass jeder vor der eigenen Haustür kehren solle: Das reicht nicht. Was wir mit unserem Konsum anrichten, geschieht eben nicht vor oder hinter der eigenen Haustür, sondern an Orten, die nie ein westlicher Mensch und Konsument je zu Gesicht bekommen wird. Aus den Augen, aus dem Sinn. Haben wir nicht die UN, um solche externen Effekte wieder ins System zu internalisieren?
Nein. Der Kompass für die Zukunft mit seinen 17 Nachhaltigkeitszielen ist zwar von allen Mitgliedsländern unterschrieben worden, aber völkerrechtlich nicht bindend, kann also ohne Konsequenzen ignoriert werden. Von Staaten und Konsumenten. Andererseits zeigt die Corona-Krise: Wir können uns ruckzuck ändern, wenn die Krise ausgerufen wird, wenn die Notwendigkeit harscher Maßnahmen unbestreitbar wird. Wie schafft man diese Notwendigkeit für Klima und Nachhaltigkeit? Das wäre doch mal eine Herausforderung für Kommunikationswissenschaftler und PR-Experten – wenn selbst Greta daran gescheitert ist.
Vielleicht fehlt es den Sprachmächtigen etwas an Phantasie. Lassen Sie mich nachhelfen: Dass die UN-Ziele bis 2030 erreicht werden sollen, hat gute Gründe. So schätzen Experten, dass bis 2030 rund 700 Millionen Menschen durch akute Wasserknappheit aus ihrer Heimat vertrieben werden könnten: Die nächste Migrationswelle in Richtung USA und Europa. Wir können das noch verhindern. Doch mit jedem ungenutzt verstreichenden Monat nehmen unsere Erfolgschancen ab und nimmt die Dynamit-Ladung an Wums zu, die wir bis 2030 ansammeln. Keiner von uns kann in Afrika nach Trinkwasser bohren?
Doch. Jede und jeder von uns. Ohne das eigene Land zu verlassen. Denn dass den Leuten dort das Wasser ausgeht, das haben auch wir verschuldet: Ein Kilo, also zweieinhalb Avocados (von denen ein Drittel dann weggeworfen wird) vernichten bis zur Ernte tausend Liter Wasser, das der durstenden Bevölkerung fehlt, weshalb sie schon mal die Koffer packt. Früher brauchte man Kriege, um Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Heute tut’s auch die Avocado und anderes exotisches Gemüse, das kein westlicher Mensch braucht. Esst mehr Tomaten!