Was ist ein Leben wert? Versuchen wir eine etwas ausgefallene Antwort: Noch 1976 wurden 26 Prozent aller Querschnittslähmungen von Arbeitsunfällen verursacht. Das heißt: An jedem Arbeitstag landeten hier in Deutschland zwei Menschen nach einem Unfall bei der Arbeit im Rollstuhl. Das ist eine Katastrophe.
Respektive: Das war sie. Denn seither haben Gesetz- und Arbeitgeber, Sicherheitsbeauftragte und natürlich Arbeitnehmer selber viel für die Arbeitssicherheit getan. So viel, dass heute „nur“ noch 7 Prozent der Rolli-Fahrer ihre Querschnittslähmung der Arbeit „verdanken“. Was für ein erstaunlicher, schöner und befriedigender Fortschritt. Wobei natürlich gilt: Jeder Arbeitsunfall ist einer zu viel. Hierzulande und anderswo.
Anderswo, das heißt auf der ganzen Welt, zieht sich alle ein bis zwei Minuten ein Mensch eine Querschnittslähmung zu. Das ist immer noch eine Katastrophe. Doch zumindest hierzulande ist die Arbeit nicht mehr ganz so brandgefährlich wie sie es noch in den 70ern war. Wir haben viel erreicht. Wirklich?
Das ist ein wenig grob gedacht. Und „grob“ bedeutet hier: falsch. Denn seit den 70ern ist etwas passiert, das in diesen Zeilen bisher noch nicht enthalten ist. Was ist passiert? Worauf tippen Sie?
Die Globalisierung.
Unter ihrer Perspektive sieht die ganze Sache schon anders aus. Natürlich ist eine Reduktion von 26 auf 7 Prozent ganz wunderbar. Der deutsche Arbeitnehmer leidet heutzutage also unter einem viel geringeren Risiko, bei der Arbeit im Rollstuhl zu landen. Wir übersehen dabei: Ungleich viel mehr als in den 70er-Jahren kommt das, was wir täglich konsumieren, nicht mehr nur vom deutschen Arbeitnehmer, sondern von den Proletariern aller Länder. Und wer glaubt, dass das Rollstuhl-Risiko der Arbeiter in Peru, Brasilien, Asien und im Ostblock auch nur annähernd unsere 7 Prozent beträgt, hat die Globalisierung nicht verstanden. Was die Frage provoziert: Ist ein peruanisches Arbeiterleben so viel weniger wert als ein deutsches? Um wieviel? Etwa nur halb so viel, weil die Peruaner, was die Arbeitssicherheit angeht, ja nur halbe Menschen sind?
Alle reden gerne sehr abstrakt von der „sozialen Nachhaltigkeit von Lieferketten“. Das hört sich ja auch sehr viel nichtssagender an als: Weil wir kaufen, sitzen andere im Rollstuhl. Unser Konsum schafft Arbeitsplätze – auf Plantagen und in Rollstuhl-Fabriken. Das ist brutal formuliert?
Was meinen Sie, wie brutal das erst jene finden, die im Rollstuhl landen.
Trotzdem empören sich manche: „Was in fernen Ländern passiert, können Sie mir doch nicht vorwerfen!“ Warum nicht? Die Antwort kommt schnell: „Wir können in Peru doch nicht dieselben Standards für Arbeitssicherheit garantieren wie hierzulande. Das ist viel zu teuer.“ Oder: „Wir wissen doch gar nicht, welcher Vor-Vor-Vorlieferant für uns in Peru vorproduziert!“ Oder auch: „Das ist doch nicht unsere Schuld! Schuld hat die Hyper-Konkurrenz. Der Markt diktiert uns das!“
Das sind gute Argumente oder wie ein Kollege sagt: „Baldrian fürs Management.“ Das ist fies ausgedrückt, fast schon beleidigend, weshalb wir fortan lieber den wissenschaftlich korrekten Ausdruck verwenden: Verantwortungsdiffusion. Wenn der Markt schuld ist, kann ich ja nix dafür und muss deshalb auch keine Verantwortung übernehmen. Die Implikation dieser Diffusion ist so erhellend wie absurd: Die Verantwortung für meine Lieferkette endet an der Landesgrenze. Wie praktisch – und wie offensichtlich unsinnig.
Es gibt Unternehmen, die diesen Unfug erkannt haben und die soziale und ökologische Nachhaltigkeit ihrer Liefernetzwerke nicht nur über die Landesgrenzen hinaus transparent machen, sondern darauf drängen und es notfalls mit Nachdruck und Androhung von Auslistung durchsetzen, dass auch die Lieferanten der Lieferanten ihrer Lieferanten in fernen Ländern zumindest höhere Standards der Arbeitssicherheit einhalten als im betreffenden fernen Land bislang üblich. Das geht mit etwas gutem Willen und das verteuert das Endprodukt noch nicht einmal in dem Maße, in dem die Verantwortungsdiffundierer das vorgeben.
Wobei „guter Wille“ eine Voraussetzung ist, auf die sich einige Gesetzgeber nicht mehr verlassen möchten. Denn inzwischen ersetzen einige Länder den guten Willen der Unternehmen durch Lieferkettengesetze. Großbritannien und Frankreich haben bereits ein Lieferkettengesetz, die Niederlande bereiten eines vor; wir auch. Diese Gesetze regeln, was der Markt nicht zustande brachte: dass auch in fernen Ländern soziale und ökologische Mindeststandards eingehalten werden. Und das ist gut so.