Warum ich? Sollen andere sich drum kümmern!

Warum ist das Klima kaputt? Warum sind die Corona-Fallzahlen immer noch so hoch? Warum haben wir den Großteil der Arten ausgerottet?

Weil keiner sich dafür verantwortlich fühlt. Zwar sehen wir alle die abnehmende Artenvielfalt, die Corona-Zahlen in den Nachrichten und die viel zu warmen Winter. Aber wir denken immer noch mehrheitlich und viel zu oft: Warum soll ich mich ändern? Sollen erst mal andere was tun! Die Politiker zum Beispiel. Oder die Unternehmen. Egal wer, Hauptsache „Die anderen“.

Das nennt man Verantwortungsdiffusion. Klingt nach einem netten wissenschaftlichen Begriff, der keinem weh tut. Dabei ist der Begriff mit das Schlimmste, was Menschen zustande bringen – bis hin zum Mord.

Das bis heute aktuelle Lehrbuchbeispiel ist die Ermordung der jungen Kitty Genovese im März 1964 in New York: 38 Anwohner hörten die verzweifelten Schreie von Kitty, die durch die Nachbarschaft hallten.

Keiner rief aber 911 – oder eilte ihr gar zu Hilfe. Nach sage und schreibe einer unendlichen halben Stunde war Kitty tot. Der Mechanismus hinter diesem Kollektivversagen wird seither Bystander-Effekt genannt. Er wurde in zahllosen Studien untersucht, welche die perfiden Prinzipien des Verantwortungsversagens aufdeckten; zum Beispiel: Je mehr Menschen bei einer Katastrophe zuschauen, desto unwahrscheinlicher wird, dass jemand hilft, weil alle denken: „Warum ausgerechnet ich? Stehen ja genug andere herum!“ Beim Klima stehen rund acht Milliarden im wahrsten Sinne des Wortes „Zuschauer“ herum. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir selbiges retten, ist Null – nur gibt das keiner zu, was ebenfalls ein Prinzip des Bystander-Effekts ist: Alle wissen es, aber keiner gibt es zu. „Ach, die singt sicher bloß laut!“ – Nee, die wird gerade mit zwei Dutzend Messerstichen ermordet. „Na und? Warum ist das meine Angelegenheit?“ Die Antwort kommt mit einem Wort aus.

Verantwortung.

Wir haben Verantwortung schlicht verlernt. Als wir als Kinder an Opas Hand durch die Nachbarschaft liefen und eine leere PET-Flasche im Rinnstein liegen sahen, musste Opa das nur einmal sagen und wir hoben sie wie selbstverständlich auf. Heute veranstalten Vlogger, Privatsender und Soziologen Feldversuche, bei denen sie Hunderte Passanten zählen, die an noch viel größeren Sauereien vorbeilaufen, als hätten sie Scheuklappen auf. Das haben sie.

Wenn wir unfähig sind, eine Handvoll Müll aus dem Rinnstein zu fischen – wie wollen wir das Klima retten? Oder unsere Kinder vor der nächsten Pandemie? Wenn das Leben ein Spiel wäre – würden Sie auf so verantwortungslose Spieler Ihr gutes Geld verwetten? Wenn wir ehrlich sind: Wir würden nicht mal auf uns selber setzen. Wir kennen uns zu gut.

Auf dem Grabstein der Menschheit steht dann irgendwann als Todesursache nicht die in den USA so bekannte und als Massen-Exodus-Ursache beliebte „Zombie-Apokalypse“, sondern „R.I.P – Totales Verantwortungsversagen“. Warum versagen wir schon so lange?

Wegen einer banalen Verwechslung. Selbst nach drei Jahren Kindergarten, vier Jahren Grundschule, fünf oder acht Jahren weiterführende Schule und sogar Hochschule oder Berufsausbildung, selbst nach zig Berufsjahren drücken wir uns vor der Verantwortung, weil wir halbgebildet immer noch meinen:

Verantwortung = Aufwand

Neulich zum Beispiel: Die Glasscherbe aus dem Sandufer des kleinen Rinnsals im Stadtpark herausklauben und entsorgen? Damit kleine Kinderfüße und Hundepfoten sich nicht verletzen? Wo ist die Parkaufsicht? Das Ordnungsamt? Die Polizei? Dutzende Passanten sahen die Scherbe und man konnte ihnen die Beantwortung aus dem Gesicht ablesen: Was geht das mich an? Soll ich mich jetzt bücken und womöglich die Sonntagskleidung beschmutzen oder mich in den Finger schneiden? Das ist ein unzumutbarer Aufwand.

Stimmt, sich zu bücken ist Aufwand.

Doch wir wären keine Betriebswirte oder auch nur halbwegs vernünftige Menschen, wenn wir dieser Milchmädchenrechnung auf den Leim gehen würden. Der Kaufmann fragt nicht nach dem Aufwand, sondern nach dem Ertrag und ob dieser den Aufwand übersteigt. Und für die Glasscherbe wie das Klima und Corona und jede andere Katastrophe gilt:

Du bückst dich und hebst den Mist auf?

Dann tust du das Richtige.

Dann bist du ein guter Mensch.

Dann ist dein Gewissen ruhig.

Gibt es einen höheren Ertrag?