Zählen schlaflose Androiden digitale Schafe?

Wir wissen es genauso wenig wie Philip K. Dick, der diese charmante Frage in die Literatur einführte. Wir wissen nur eines: Wir leben im Zeitalter der Digitalen Disruption. Alles muss digital werden!

Denn heutzutage gelten „Digitalisierung“, „Fortschritt“ und „Innovation“ als synonym. Ist es digital, dann muss es auch gut sein, oder? Die Vorteile des Digitalen sind nicht von der Hand zu weisen: Zeitersparnis, Effizienzsteigerung, körperliche Entlastung, exakte Analyse großer Datenmengen; smarte Telefone, smarte Häuser, smarte Städte, Smart Pricing, Smart Contracts … Vieles, was bislang tote Materie war, denkt jetzt plötzlich digital mit und das weitgehend autonom.

Die digitale Welt hat uns vereinnahmt: Die meiste Zeit des Tages starren wir gebannt auf den Bildschirm entweder vom PC am Arbeitsplatz oder von Handy, Tablet oder TV zu Hause. Und trotzdem: Wenn es im Supermarkt mehrmals im Jahr günstige Notiz- und College-Blöcke gibt, Tagebücher und Stifte, dann bleiben diese nicht in den Regalen liegen, sondern verkaufen sich wie vor Jahr und Tag glänzend. Warum – wenn das Digitale doch so viel besser sein soll?

Und überhaupt: Seit 30 Jahren reden die Auguren vom „papierlosen Büro“, obgleich die meisten unserer Büros immer noch keinerlei Anzeichen zeigen, sich irgendwann komplett digital transformieren zu lassen. Subjektiv empfunden eher im Gegenteil: Die Papierflut nimmt von Jahr zu Jahr zu statt ab. Warum?

Aus einem Grund, den wir alle nachvollziehen können, weil wir ihn täglich erleben: Die Möglichkeiten unserer Digital Devices können noch so grenzenlos sein – so viel können wir gar nie schreiben! – so begrenzt ist gleichzeitig die kreative Freiheit und unsere Produktivität darauf und damit. Zwar haben viele Smartphones inzwischen bezeichnenderweise einen Pen fürs analoge Kritzeln – als Konzession an die nicht totzukriegende menschliche Neigung, lieber analog zu kritzeln als digital zu tippen. Doch wie lange kritzeln wir denn mit dem Pen auf dem Touchscreen?

Spätestens bis die neueste Facebook-, Newsfeed- oder Abo-Meldung gepusht wird oder das neueste Instagram-Video reinklingelt – dann sind wir weg. Didaktiker beklagen bereits, dass sich auch deshalb die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne eines Westeuropäers auf unter 20 Sekunden reduziert habe und dass in dieser kurzen Zeit kein kohärenter und komplexer Gedanke jemals auf einem Handy geschrieben wurde.

Auf einem Notizzettel sieht das analoge Gekritzel deutlich weniger eindrucksvoll aus als auf jeder digitalen Schreiboberfläche. Doch die gekritzelten analogen Gedanken sind ungleich komplexer, kohärenter, tiefer und vor allem stringenter, also zusammenhängender.

Das ist auch der Grund, warum in so gut wie allen Seminarsälen und Sitzungsräumen immer noch Whiteboards und Pinnwände stehen und reichlich genutzt werden. Und jetzt der Knüller: Selbst beim Digitalkonzern Google müssen Software-Entwickler und Designer ihre Ideen erst einmal in welcher Form vorbringen? In Papierform. Man stelle sich das vor. Doch gerade jene, deren Beruf das Digitale ist, kennen am besten dessen Schwächen.

Dito Schallplatte: Nachdem sie wegen Disc und MP3 schon totgesagt wurde, wurden die Vinyl-Pressen wieder aus dem Keller geholt und angeworfen. Das liegt auch daran, dass der musikliebhabende Haptiker seine Musik nicht nur hören, sondern auch anfassen möchte. Hinzu kommt der Sammler-Aspekt: Selbst die umfangreichste Spotify-Bibliothek kann es rein optisch, haptisch und ästhetisch nicht mit einer „echten“ Plattensammlung aufnehmen.

Auch die digitale Anzeige des Tachometers in modernen Autos erfolgt wie? Nicht digital in Form von Ziffern nach Art einer Digital-Uhr, sondern als analoger Tachometer mit rundem Ziffernblatt und analog-erscheinendem Zeiger.

Und obwohl Knipser heutzutage Tausende Bilder auf dem Handy haben – die analogen Fotobücher laufen so gut, dass einschlägige Unternehmen damit sündhaft teure TV-Werbekampagnen für noch mehr analogen Umsatz finanzieren können. Man möchte physisch umblättern, was man visuell sehen kann.  Warum?

Weil Gefühle nicht digital sind. Emotionen sind und bleiben analog.

Deshalb sind Nachrichten vom kompletten Ableben des Analogen nicht nur verfrüht, sondern höchst unwahrscheinlich. Es sei denn, es gelingt uns, unser analoges Bewusstsein komplett digital in die Cloud zu uploaden. Selbst wenn das eines schönen oder weniger schönen Tages gelingen sollte: Wer außer Psychopathen und Alexithymikern wollte sich das antun? Wer wollte freiwillig auf seinen analogen Affektreichtum verzichten? Das ist der selten diskutierte blinde Fleck der Digitalisierung: Der Mensch ist, lebt und betrachtet sich auch oder gerade trotz Digitalisierung immer noch als analoges Wesen.

Immer noch werden für Milliarden schöne Armbanduhren gekauft, obwohl eine Smart Watch so viel mehr kann und obwohl jedes Handy ebenfalls die Zeit anzeigt. Dabei spricht eine schöne Armbanduhr nicht nur unseren Sinn für Design, Ästhetik, Stil und Handwerkskunst an, sondern vor allem jenes Organ des menschlichen Körpers, das wie alle anderen Organe immer noch und immer weiter äußerst analog ist: unser Gehirn.

Deshalb tragen viele lieber eine Uhr am Arm: Sie vermittelt uns ein analoges Gefühl vom Vergehen der Zeit, indem sich ihre Zeiger im Kreis drehen und dabei sowohl vorankommen wie auch in kreisförmiger Bewegung stets am selben Ort verbleiben. Und neben Gehirn und Zeit gibt es noch etwas, das immer analog bleiben wird, so sehr wir uns auch digital transformieren. Erraten Sie’s?

Unser Leben ist und bleibt analog.

So gesehen könnten die vielen analogen Nischen in der digitalen Welt auch eine Art Hilfeschrei nach Entschleunigung und Authentifizierung sein. Wenn das Digitale für Fortschritt, Präzision und Effizienz steht, steht das Analoge für Kreativität, Authentizität und Beständigkeit.

 

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