Haben Sie Mitarbeiter? Kolleginnen oder Kollegen? Kinder? Beziehungspartner? Wenn Sie denen eine Aufgabe geben oder sie um etwas bitten – wieviel Druck brauchen die, damit sie abliefern? Und wenn es umgekehrt ist: Wieviel Druck brauchen Sie, damit Sie tun, was nötig ist?
Viele Vorgesetzte denken insgeheim oder sagen hinter vorgehaltener Hand: „Wenn’s drauf ankommt, brauchen meine Leute einfach Druck – sonst läuft hier nichts!“ Kinder machen bekanntlich auch eher ihre Hausaufgaben, wenn mit Handy-Entzug gedroht wird. Das ist ein völlig inakzeptables und inhumanes Menschenbild und überdies gänzlich unwissenschaftlich?
Das würde ich nicht sagen. Die Druck-Theorie hat sogar einen wissenschaftlichen Namen: Theorie X. Sie sagt vereinfacht: Der Mensch ist von Natur aus träge und geht der Arbeit so weit wie möglich aus dem Weg, weshalb er Druck braucht, damit er überhaupt etwas zustande bringt. Ein solcher X-Mensch hat nur wenig Ehrgeiz, scheut Verantwortung, möchte straff geführt werden und verspürt ein sehr dominantes Sicherheitsstreben. All diese schönen Eigenschaften produzieren und rechtfertigen den autoritären Führungsstil, den wir allenthalben beobachten und erleben können: Wenn du willst, dass sich was bewegt – mach ordentlich Druck!
Druck ist das älteste Führungsinstrument. Schon der Zwangsvollstrecker mit dem Flammenschwert machte gehörig Druck, als er Eva und Adam aus dem Paradies vertrieb – sonst wären die nie ausgezogen. Deshalb ist die Theorie X auch seit langem bekannt und erforscht, zum Beispiel durch den MIT-Professor Douglas McGregor bereits in den 60er-Jahren. Natürlich konnte nicht einmal er einen von Natur aus stinkfaulen Menschen so stehen lassen, weshalb er flugs zur Theorie X die diametrale Theorie Y gesellte.
Sie besagt: Der Mensch ist von Natur aus rege und arbeitet im Grunde gern, weshalb Druck völlig unnötig ist. Im Umkehrschluss: Wenn Menschen also, wie jeder Chef beobachten kann, eine gewisse Arbeitsunlust an den Tag legen, ist diese nicht natürlich, von der menschlichen Natur ausgehend, sondern eher eine Folge von ungünstigen Arbeitsbedingungen und demotivierendem Führungsverhalten.
Der Mitarbeiter, Kollege, Mensch der Theorie Y übernimmt gerne Verantwortung, arbeitet diszipliniert und übt Selbstkontrolle, weshalb man ihm nicht wie seinem X-Kollegen ständig kontrollierend über die Schulter schauen muss.
Gleichzeitig stellte McGregor fest: Wird der Y-Mensch für seine gute Arbeit belohnt, verstärkt das seine Y-Tendenz und er arbeitet und leistet noch intensiver. Warum auch nicht? Immerhin betrachtet der Y-Mensch seine Arbeit als Quelle der Zufriedenheit, Freude und Selbstverwirklichung. Und daraus wiederum leitet sich der kooperative Führungsstil ab: wenig Druck, viel Verantwortung. Kein Mensch, der mit Freude bei der Arbeit ist, braucht Druck, um die Arbeit zu erledigen, die er ohnehin bereits freudig erledigt.
Wenn wir also die beiden Führungsstile betrachten: Welches ist der richtige? Welcher ist besser?
Diese Fragen stellen sich nicht, weil sie unterstellen, dass Führungskräfte ihre Wahl des Führungsstils bewusst treffen. Rein empirisch betrachtet ist das jedoch eher selten der Fall. Viel häufiger wird mit Druck und Kontrolle, Command & Control geführt,
- wenn die Führungskraft selber unter Zeit-, Termin-, Leistungs- oder Erfolgsdruck steht
- wenn die Firmen- und Führungskultur das vorschreibt und belohnt (um Peter Drucker zu variieren: „Culture eats leadership for breakfast!“)
- weil das dem persönlichen Führungsstil entspricht, den man sich angewöhnt hat und nicht mehr reflektiert
- weil Druck nachweislich Ergebnisse liefert und niemand auf dessen Opportunitätskosten (Demotivation) achtet
- weil der Chef das Sagen hat und Druck das Siegel dieser Macht ist
- weil Druck gesellschaftlich akzeptiert ist und bereits Kinder auf Druck sozialisiert werden; Stichworte Notenstress und Leistungsdruck
- wenn nicht zwischen Zielvereinbarung und Zielvorgabe unterschieden wird
- wenn Führungskräfte erst gar nicht herausfinden wollen, wen sie gerade vor sich haben: X- oder Y-Mitarbeiter?
- weil es sehr viel einfacher und stärker eingeübt ist, Menschen herumzukommandieren, als ihre Eigenmotivation anzusprechen: Vielen Führungskräfte fehlen dafür schlicht die Worte
- weil sich damit unliebsame, mitunter hoch kreative Diskussionen im Keim ersticken lassen.
Das alles war auch McGregor bekannt, weshalb er das Gegenteil vorschlug: Führungskräfte sollten erst einmal mit Theorie Y führen. Die Annahme dahinter: Wenn ich eine Aufgabe stelle und zunächst keinen Druck mache, übernehmen sie Y-Menschen von sich aus und motiviert. Denn intrinsische Motivation motiviert ungleich stärker als extrinsischer Druck. Wenn sich herausstellt, dass doch einige X-Menschen unter den Angesprochenen sind, kann man immer noch Druck nachlegen. Das hört sich einleuchtend an, war William Ouchi jedoch nicht genug. Er machte 1981 aus der Dichotomie eine Trichotomie, indem er Theorie Z hinzufügte, die sich am typischen japanischen Führungsstil orientiert.
Theorie Z wartet mit einem interessanten Unterschied auf: Theorie X und Y empfehlen, Menschen so zu führen, wie sie nun mal sind. Entweder so oder so. Theorie Z dagegen postuliert: Je stärker man Menschen mit Theorie Z führt, desto stärker entwickeln sie sich zu Z-Menschen. Je stärker man sie zum Beispiel an Entscheidungen beteiligt, desto häufiger und kompetenter engagieren sie sich. Deshalb werden in typisch japanisch geführten Unternehmen strategische Entscheidungen kollektiv und einvernehmlich gefällt (überspitzt): Bevor nicht auch der Pförtner zugestimmt hat, verabschiedet der Vorstand zum Beispiel kein neues millionenschweres Investitionsprojekt. Das ist, so seltsam das klingt, reinster Humanismus: Der Mensch wird so, wie er behandelt wird. Er ist wahrlich das Produkt seiner Umwelt. Wird er unter Druck gesetzt, gewöhnt er sich an eine geduckte Haltung. Wird er einbezogen, lernt er verantwortlich mitzureden. Also fragen wir erneut: Was ist der beste Führungsstil?
Dazu ein Beispiel aus einem Gymnasium. Ein Oberstufenlehrer will seine Schüler nicht mehr mit Command & Control behandeln („Bis Freitag: 200 neue Vokabeln!“). Also gibt er keine konkreten Hausaufgaben vor, sondern regt die Eigenverantwortung der Schüler an: „Bereitet Thema A vor!“ Schon nach wenigen Wochen rebellieren die Oberstufen-Schüler: „Wir wollen nicht eigenständig arbeiten! Sagen Sie uns klipp und klar, welche Aufgaben im Buch wir durcharbeiten sollen! Sonst bestehen wir das Abi nicht!“ Was ist das?
Aber sowas von einer X-Situation mit dezidierten X-Menschen. Ecce homo? So ist der Mensch nun mal? Mitnichten. Jede Wette: Locker ein Viertel seiner Schüler fühlte sich wohl dabei, nicht gegängelt zu werden und schaffte die Stoffbearbeitung hoch motiviert, war aber nicht so laut wie die protestierenden Empörten. Der Lehrer hatte in bester Absicht einen handwerklichen Fehler begangen: Er hatte auch seine X-Schüler über den Y-Kamm geschoren, was prompt schiefging. Freiheit ist für Menschen, die Fesseln gewohnt sind, zunächst etwas Bedrohliches oder gänzlich Unverständliches; siehe Platons Höhlengleichnis (Wer in seiner Höhle hausend nie das Licht sah, hat noch nicht mal einen Namen dafür). Also bricht demnächst der Klassenkampf in der Klasse aus: X-Schüler gegen Y-Schüler? These vs. Antithese?
Die Synthese hätte zumindest potenziell den Klassenfrieden und den Lernerfolg retten können: Hätte der Lehrer Theorie Y nicht mit der Tür ins Haus fallend eingeführt, sondern seine Klasse entsprechend Theorie Z langsam aber stetig zu eigenständigem Denken und eigenverantwortlichem Handeln entwickelt, hätten seine Schüler etwas ungleich Wertvolleres als „bloß“ das Abitur erworben. Nämlich die Fähigkeit, für sich selbst zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Wie viele Erwachsene können das heutzutage? Auch das lässt sich im Umkehrschluss leicht beantworten:
Wieviel Druck brauchen Sie?