Tausende Englischer Tankstellen waren tagelang geschlossen: kein Sprit! Vor den leeren Tankstellen stauten und prügelten sich Autofahrer um den letzten Tropfen Benzin. Szenen wie in einem Mad-Max-Film: apokalyptisch, brutal, vorzivilisatorisch. Weil Zehntausende Tanklaster-Fahrer fehlen. Die hatte der Brexit aus dem Land geworfen. Hätte man sich das nicht vorher denken können?
Das hatte man. Boris Johnson argumentiert sinngemäß: „Ich lasse die jetzt nicht wieder ins Land! Wenn die Ölkonzerne mehr Fahrer wollen, sollen sie so gut bezahlen, dass wir Engländer wieder selber ans LKW-Steuer wollen.“ Und nicht wie zuvor Tausende günstigere Polen, Rumänen und Balten. Johnson will keine Dumping-Einwanderer, er will höhere Löhne. Mit der Brechstange. Es hüpft das Herz jedes VWLers: Eines der größten wirtschaftspolitischen Feldexperimente unserer Tage! Wird es gelingen?
Das ist nicht die Frage. Nicht zunächst und zuerst. Denn zuerst sollten wir fragen: Warum kommt erst jetzt einer drauf?
Es gibt so viele Branchen, die sich nur noch mit modernen Dumping-Lohnsklaven über Wasser halten können; oft aus dem Ausland. Bei einem Dexit würde alles hierzulande zusammenbrechen: Seniorenheime, Krankenhäuser, Bau, Transport, Bundesliga, Einzelhandel … Denn diese und viele andere Bereiche der Wirtschaft können nur noch existieren, weil die günstigen Arbeitskräfte aus dem Ausland kommen. Johnson meint nun: Schluss damit! Wir schaffen dieses kranke Dumping-System ab und gehen dafür einige Wochen durch das Tal der Tränen, weil die Arbeiter fehlen. Doch danach haben die Tankstellen wieder Sprit und viele Engländer einen schönen, neuen, gut bezahlten Job, finanziert durch Umlage auf alle Autofahrer, die das Job-Programm und die heftig gestiegenen Fahrer-Löhne über die galoppierende Inflation des Benzinpreises bezahlen werden. Das klingt zwar nach Schockmethode. Doch hoffen wir, dass es funktioniert. Warum?
Weil wir exakt dasselbe Problem haben, auch ohne Brexit. Auch in Deutschland fehlen rund 60.000 LKW-Fahrer. Jeder, der aufmerksam einkauft, merkt das an den gehäuften Leerplätzen in den Regalen, wie wir sie früher nicht kannten: zu wenige Fahrer, zu wenige Touren. Die vakanten Stellen werden massenhaft, wie jeder Online-Besteller täglich an der Haustür erfahren kann, von Fahrern besetzt, die zwar eine Adresse finden, aber darüber hinaus kaum ein Wort Deutsch verstehen oder sprechen können.
Die Engländer machen, was wir uns noch nicht trauen. Wir kitten das Problem noch immer mit günstigen ausländischen Fahrern. Wie im Krankenhaus mit ausländischen Ärzten und in der privaten Pflege mit ausländischen Pflegerinnen und auf dem Bau … und … und … und …
Wenn wir über den Kanal schauen, sollten wir uns Spott verkneifen: Wir stehen nicht wesentlich besser da. Gewiss muss man kein Freund des Brexit sein. Doch viele unserer Branchen sind so kaputt wie die da drüben. Auch wir können nicht annähernd genügend gut ausgebildete Fahrer aus dem Hut zaubern. Welcher Deutsche will noch – sobald er älter als sechs Jahre ist – Brummi-Fahrer werden? Antwort: viel zu wenige.
Globalisierung, Logistik und Wohlstand sind große Worte. Doch am Ende hängen sie alle drei an einem anderen Wort, das viel konkreter ist: Fahrermangel. Wir vergessen ständig, dass es auf einer ganz realen Ebene keine abstrakte „Wirtschaft“ gibt, wenn es keine konkreten Menschen gibt, die wirtschaften. It’s a people’s business, stupid! Keine Leute, keine Wirtschaft, kein Wohlstand. Was die Personalplanung angeht, haben Kapitalismus und Globalisierung auf lange Sicht schmählich versagt.
Natürlich werden wir hier bei uns auf absehbare Zeit keinen Dexit haben. Wir sollten uns trotzdem fragen: Wenn die Zehntausenden ausländischer Fahrer unseren Fehler im System nicht länger kitten wollen, weil sie zum Beispiel durch die Angleichung des Lebensstandards im Heimatland annähernd gleich bezahlt werden und ab morgen plötzlich dort fahren wollen oder weil sie wegen der nächsten Pandemie nicht mehr bei uns rein dürfen – was machen wir dann? Dann stehen wir genauso trocken da wie jetzt die Engländer.
Wir sollten nicht nur das Berufsbild attraktiver machen und besser bezahlen. Wir sollten auch endlich den gesamten Arbeitsmarkt aktivieren und Frauen nicht nur für Vorabend-Serien ans LKW-Steuer lassen. Es gibt schon einige Initiativen, die das versuchen. Es müssten mehr sein. Viele setzen auch auf die galoppierende Technisierung des Berufs: So ein Fahrerhaus sieht heutzutage fast schon wie ein Airbus-Cockpit aus. Hightech, Pilotensessel, zig digitale Fahrassistenten, Tourenplanung in Echtzeit.
Es würde auch nichts schaden, wenn der Verkehrs- oder der Wirtschaftsminister sich für die Attraktivierung dieses oder anderer Engpass-Berufe mit einer zeitgemäßen Kampagne stark machen würde. Aber mit pro-aktivem Regieren hat es die Politik ja nicht so. Lieber wartet man, bis das Kind im Brunnen liegt, um dann in den Feuerwehr-Modus umzuschalten, der ungleich mehr Aufmerksamkeit verheißt. Wir leben längst politisch und gesellschaftlich in der Attention Economy. Gemacht wird nicht, was sachlich nötig ist, sondern was Aufmerksamkeit verspricht; auch als Instagram-Prinzip bekannt.
Warum aber lassen wir die ausländischen Fahrer nicht einfach fahren? Die freuen sich doch auch über ihren Lohn und wir über Belieferung. Warum also nicht munter weiter so? Weil der Englische Patient zeigt, was das eigentliche Problem ist: Abhängigkeit. Wer sich von billigen ausländischen Kräften abhängig macht, begibt sich in eine Abhängigkeit und Abhängigkeit bedeutet Ausfallrisiko, das jederzeit virulent werden kann. Bei einem Brexit, einer Pandemie oder schlicht wenn die Fahrer im Heimatland bald fast genauso gut bezahlt werden. Dann bleiben sie einfach weg.
Es war jedem Risikomanager schon vorher bekannt, doch den meisten in Politik und Gesellschaft wurde das erst durch Corona klar: Risiken sind Mist. Risiken darf man nicht eintreten lassen. Risiken muss man minimieren – ex ante. Nicht erst, wenn das Kind im Brunnen liegt. So gesehen ist der Brexit mit seiner „Fahrerflucht“ ein Weckruf für besseres Risk Management, der – ich wette darauf – wie viele Weckrufe erst dann gehört wird, wenn es wieder zu spät ist.
In der Nachbarschaft wohnt übrigens ein LKW-Fahrer, netter Kerl, zwei kleine Kinder. Er hat seinen alten Job gekündigt, weil der Spediteur Überstunden knauserig entlohnt, er einen 20 Jahre alten LKW fahren und Stückgut mit einem kaputten Gabelstapler laden musste. Jetzt fährt er Schüttgut, das er nicht mühsam selber verstauen muss, mit einem nagelneuen Laster und wird anständig bezahlt. Das alte Lied: Was die Makroökonomie nicht auf die Reihe kriegt, wuppt die Mikroökonomie – bei den Klassenbesten.