Wetten: Sie haben keine Zeit …

… diesen Blog zu lesen. Wer hat die schon? Zurzeit hat niemand Zeit für irgendwas – außer Arbeit, Hektik und Zusatzbelastungen. Und Netflix. Niemand von uns hat viel Zeit (übrig). Was paradox ist. Wir haben wenig oder nichts von etwas übrig, von dem wir im Grunde nicht sagen können, was es ist.

Oder könnten Sie in einem Satz beschreiben, was Zeit überhaupt ist? Ohne auf tautologische Trivialerklärungen wie „das ist das auf der Uhr“ zurückzugreifen?

Eine etwas wissenschaftlichere Definition lautet: Zeit ist die Abfolge von Ereignissen, das heißt eine eindeutige, nicht umkehrbare Richtung von Ereignissen. Das ist interessant: Ereignisse scheinen für die Zeit wichtig zu sein – wir sehen am Ende dieses Blogs, warum.

Schon immer hat sich der Mensch mit der Zeit beschäftigt. Zeugnisse aus frühester Vorzeit für die intensive Beschäftigung mit der Zeit finden wir zum Beispiel auf den Osterinseln oder in Gestalt antiker Sonnenkalender. Damals ging es hauptsächlich um längere Zeiträume: Monate, Erntezyklen, Jahre. Minuten wurden erst in den letzten Jahrhunderten wichtig.

Früher lebte jedes Dorf unter seiner eigenen Zeitglocke. Jedes Dorf hatte seine eigene Zeit. Unter anderem, weil man sich damals an der Sonne orientierte und diese für jedes Dorf zu einem anderen Zeitpunkt auf- und untergeht. Als dann in den USA die Eisenbahn die Ost- mit der Westküste verband, führte dieses Käseglockendenken zum Chaos. Während der Zug dahinraste, kam man praktisch nicht mehr hinterher mit dem Nachstellen seiner Uhr. Denn jeder Bahnhof hatte seine eigene Zeit. Also führten die USA 1883 die Zeitzonen ein: Alles, was in derselben Zeitzone liegt, hat dieselbe Zeit. Die Zonen beendeten das Zeitchaos.

Heute sind Minuten und sogar Sekunden Pipifax. Denn zum Beispiel bei der Kommunikation mit Satelliten werden Millionstel Sekunden relevant. Möglich ist das erst seit 1949, als das amerikanische National Bureau of Standards die Atomuhr als Referenz hernahm. Das war der Start für eine absurd exakte Zeitmessung. So genau geht die Atomuhr. Hätte sie mit dem Urknall zu ticken begonnen – also vor 13,7 Milliarden Jahren – dann würde sie heute um wieviel falsch gehen? Was schätzen Sie?

Um eine Sekunde. In fast 14 Milliarden Jahren. Gute Uhr.

Heute bilden Atomuhren die Basis für die koordinierte Weltzeit, die UTC, die Universal Time Coordinated. Sie wurde 1972 eingeführt und wird gebildet aus einem Mittelwert der circa 500 Atomuhren der Welt. Alle diese Uhren schicken ihre Zeit an die Organisation für die Weltzeit, das Internationale Büro für Maß und Gewicht, BIPM, im französischen Sèvres. Dort wird der Mittelwert gebildet. So wird die Zeit gemacht. Ja?

Eigentlich nicht. Denn wenn wir unsere obige Definition ernst nehmen, fehlt ein konstituierendes Element der Zeit: Ereignisse. So gesehen bilden Uhren keine Zeit – sie messen lediglich eine Dimension der Zeit. Schlimmer noch: Wenn die Zeit in Sèvres „gemacht“ wird und nicht per se existiert, wie die Schwerkraft, wenn sie lediglich ein Mittelwert ist, dann gibt es sie in einem ganz bestimmten Sinne gar nicht. Zeit ist dann lediglich etwas, das wir uns ausgedacht haben. Eine nützliche Illusion. Doch ohne diese Illusion würden wir immer noch im Käseglockenchaos leben. Trotzdem brauchen wir rein biologisch betrachtet keine Uhr.

Denn wir haben selber eine: die circadiane Uhr, die innere Uhr, das sogenannte Zeitgefühl. Dieses geht sehr genau, variiert pro Tag nur wenige Minuten. Der Haken: Die innere Uhr stimmt nicht mit der UTC überein. Laut UTC hat ein Tag 24 Stunden. Doch die innere Uhr jedes Menschen geht zwar sehr konstant, doch anders.

Für manche Menschen dauert ein innerer, gefühlter Tag 22, für andere 25 Stunden – je nach Persönlichkeit. Unterbewusst sind wir also ständig damit beschäftigt – meist unreflektiert – unsere innere Uhr mit der offiziellen Zeit abzustimmen. Die Uhr am Handy zeigt zum Beispiel Mitternacht an, doch für Nachteulen hat der innere Tag noch ein, zwei Stunden. Oder umgekehrt: Manche schlafen schon bei der Tagesschau ein, weil ihre innere Uhr den Tag bereits beschlossen hat. Überflüssig zu erwähnen, dass die innere Uhr bei unserem Zeitmanagement in der realen Welt so gut wie keine Rolle spielt. Sie ist übrigens nicht angeboren.

Bei ganz kleinen Kindern tickt die innere Uhr noch nicht, weil sie auch tagsüber (un)regelmäßig schlafen. Das bringt das biologische Chronometer durcheinander. Erst in den ersten beiden Lebensjahren kriegt der kleine Mensch beigebracht, dass man tagsüber wach zu sein hat und nur nachts schläft. Das liest sich hier locker, doch wie junge Eltern wissen, ist „Schlafen lernen“ eine der härtesten Lektionen – auch fürs Kind. Woher wir so viel über die innere Uhr wissen?

Von den sogenannten Höhlen-Experimenten. Dabei steckt man Probanden ohne Tageslicht und Uhr sozusagen in eine Höhle – und schon entwickelt sich das Zeitgefühl auf die innere Uhr zurück. Dann wird der Tag für den Einzelnen eben je nach jeweiliger innerer Uhr 22 oder 25 Stunden lang. Ganz zu Beginn dieser Experimente bemerkte man diese individuell unterschiedlich langen Tage, als Probanden nach einigen Tagen beim Versuchsleiter anklopften und meinten: „Okay, meine sieben Tage habe ich jetzt rum – wo ist meine Aufwandsentschädigung?“ Und der Versuchsleiter verdutzt meinte: „Wir haben erst den sechsten Tag. Wie kommen Sie darauf, dass wir schon sieben hinter uns haben?“ Weil die innere Uhr bei einigen Probanden schneller lief, weniger als 24 Stunden pro Tag veranschlagte und das relativ konstant. Nicht nur der Fingerabdruck jedes Menschen ist einzigartig. Schade, dass diese Zeit-Individualität in unserer durchgenormten Standardwelt so gut wie unbekannt ist, kaum je berücksichtigt wird und so zu Problemen führt, die wir nicht korrekt erkennen können: Manchen sind die Tage zu lange, anderen zu kurz.

Wieder andere haben dieses Problem nicht mit Tagen, sondern mit Jahren: Sie fliegen im Zeitraffer dahin! Eben erst ging man von der Uni ab – und schon gibt man um Rente ein. Viele ältere Menschen behaupten allen Ernstes, dass die Zeit umso schneller vergeht, je älter man wird. Weil das so viele so fest behaupten, gibt es etliche Studien dazu.

Sie alle zeigen: Kurzfristig vergeht die Zeit für alle Menschen gleich schnell oder langsam. Sekunden, Minuten, Tage. Für einen Pensionär ist eine Stunde genauso lang wie für einen Pennäler (wir ignorieren an dieser Stelle Witze über endlos scheinende Schulstunden). Betrachtet man jedoch längere Zeiträume, divergiert die Wahrnehmung der Zeit tatsächlich signifikant – jedoch nur retrospektiv. Im konkreten gegenwärtigen Augenblick sagt kein Senior: „Tempus fugit! Die Zeit rast heut schon nur so dahin!“ Im Präsens vergeht die Zeit für alle gleich.

Doch im Rückblick sagen viele ältere Menschen: „Moment mal – eben hatten wir noch Ostern und jetzt shoppen wir schon für die Weihnachtsgeschenke? Wo ist die Zeit hin?“ Das ist ein verbrieftes Phänomen. Es scheint daran zu liegen – und hier erweist sich unsere obige Zeit-Definition als sehr tiefgründig – dass unser Gehirn unterbewusst im Rückblick die Zeiträume eng verknüpft mit der Anzahl der Ereignisse in diesem Zeitraum. Je mehr damals passierte, desto länger scheint uns der jeweilige Zeitraum zurückzuliegen. Siehe oben: Zeit ist nicht das, was auf der Uhr angezeigt wird, sondern die Abfolge der Ereignisse. Damit ist auch klar, warum für Ältere Menschen die Zeit im Rückspiegel oft nur so dahinfliegt.

Die ereignisreiche Zeit eines Menschen liegt nämlich in seinen 10er-, 20er- und 30-Jahren. Danach passiert zwar immer noch einiges, aber oft deutlich weniger als in den Dekaden davor. Je weniger, desto rasender verfliegt die Zeit retrospektiv. Daraus ergibt sich ein einfaches Rezept, die Zeit aufzuhalten: Mehr erleben! Oder wie der Kalenderspruch sagt: Wir können dem Leben nicht mehr Jahre, aber den Jahren mehr Leben geben. In diesem Sinne: Was haben Sie heute schon erlebt?

Aktive Menschen erleben mehr. Also: Gehen Sie raus! Machen Sie was! Fangen Sie Neues an! Selbst das kleinste Neue ist besser als immer dieselbe alte Routine. Routine ist der Brandbeschleuniger der Zeit. Oder wie ein amerikanisches Sprichwort sagt: „Fill your life with experiences. Not things. Have stories to tell, not stuff to show.“ Für die retrospektive Wahrnehmung der Zeit gilt: Wer mehr erlebt, lebt nicht nur intensiver, sondern auch länger.