Neulich war wieder Klimakonferenz. Über 25.000 Teilnehmer aus 197 Nationen waren sich in Glasgow einig: Sie wollen das Klima retten. Doch schon nach der ersten Woche der Konferenz kursierte in der öffentlichen und medialen Diskussion das unschöne Wort von den „Klimaschwindlern“. Die Öffentlichkeit fragte sich: Was nützt es uns, wenn ihr das wollt – aber nicht könnt?
Politisch ausgedrückt ging es in Glasgow um die Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens. Ein erster Hinweis darauf, dass selbst in der Politik der Verdacht keimt, dass Beschlüsse und deren Umsetzung nicht dasselbe sind. Selbst hundert Beschlüsse ersetzen keine einzige realisierte Maßnahme. Beschließen kann die Politik, bis Sylt im Meer versunken und Süditalien zur Sandwüste versteppt ist – Beschlüsse ändern nichts, nur Maßnahmen. Wobei das ein wenig ungerecht geurteilt ist.
In Paris wurden immerhin 100 Milliarden Dollar bis 2020 zur Unterstützung der Schwellenländer in ihrem Kampf gegen die Erderwärmung beschlossen – und davon bis heute tatsächlich 80 Milliarden ausbezahlt. 80 Prozent sind keine schlechte Erfolgsquote. Doch im Vergleich relativiert sich das. Wenn man diese Summe zum Beispiel mit dem amerikanischen Infrastruktur-Etat in Höhe von über 1 Billion Dollar für vier Jahre vergleicht. Machen ist besser als Beschließen. Doch selbst Machen nützt wenig, wenn zu wenig gemacht wird. Man kann sich bei drei Rädern eines Autos noch so viel Mühe geben – solange das vierte fehlt, kommt das Auto nicht auf die Straße. Das klingt trivial. Warum ist es dann kein Thema? Weil wir Menschen – nicht nur unsere Politiker – Meister im Verdrängen sind. Was unbequem ist, wird nicht angepackt, beschlossen und dann umgesetzt, sondern erst einmal verdrängt. Und danach noch einmal. Und noch einmal. Bis es zu spät ist. Nicht einmal dann ist garantiert, dass wir den Hintern hochkriegen: Die Leidensdruck-Theorie hat sich als falsch erwiesen.
Ein weiteres Schlüsselthema in Glasgow war die sogenannte Klimaneutralität oder auch Treibhausgas-Neutralität. Sie besagt: Die Menschen der Welt stoßen nur so viel Klimagas aus, wie sie auch wieder beseitigen. Diese Neutralität soll bis 2050 erreicht werden – was mich schwer wundern würde. Jeder Zocker auf der Rennbahn würde dagegen wetten, jeder Spekulant an der Börse. Denn die Maßnahmen dazu sind völkerrechtlich nicht bindend, sondern lediglich Selbstverpflichtungen. Ins Deutsche übersetzt lautet die versteckte Intention dahinter: „Wir wollen das – aber nicht wirklich.“ In einem Wort: unverbindlich. In zwei Worten: Misserfolgs-Garantie. Dabei sollten wir nicht so tun, als ob nur unsere Politiker ausreichender Handlungsstärke unfähig (unwillig?) wären.
In unserem Alltag verhalten wir uns bei ausgewählten Themen nicht handlungsstärker. Zum Beispiel dann, wenn wir abnehmen wollen. Wirklich alle Menschen, die abnehmen wollen, sind stark motiviert – sonst würden sie keine Diät anfangen, die bekanntermaßen kein Spaß ist. So etwas wenig Spaßiges fängt man nur an, wenn man hoch motiviert ist. Und trotzdem geben so viele Diäthaltenden ihre Diät schon nach kurzer Zeit auf oder futtern sich spätestens danach per Jojo-Gelüsten, denen sie dann wieder nachgeben, mehr als die verlorenen Pfunde wieder an. Fazit: starke Motivation, schwache Realisation. Die Polemik bietet sich an: Je „motivierter“ einer etwas angeht, desto eher zieht er es nicht durch. Enthusiasmus zu Beginn eines Projektes ist möglicherweise der beste Prädiktor für späteres Vollversagen. Enthusiasmus ist das sprichwörtliche Strohfeuer. Wer weiß, was auf ihn zukommt und was er dransetzen muss, um ein nicht-triviales Ziel zu erreichen, startet nicht enthusiastisch, sondern entschlossen. Kurz und gut: Enthusiasmus und Motivation werden katastrophal überschätzt.
Motivation ist notwendig, aber nicht hinreichend für Erfolg. Was ist der hinreichende Faktor? Nicht Motivation, sondern Volition. Motivation ist gut, Volition ist besser. Der Volksmund umschreibt Volition mit: es durchziehen, zu Ende bringen, was man angefangen hat, erst den Spaten beiseitelegen, wenn das Ziel erreicht ist. Niemand, der sich mit Erfolg auskennt, redet heute noch über Motivation. Volition ist der Schlüsselfaktor für die Rettung des Klimas wie für jeden nicht-trivialen Erfolg in Management und Alltag.
Die Menschheit erfüllt diesen Schlüsselfaktor nicht annähernd. 1997 wurde in Kyoto das erste Klimaabkommen unterzeichnet, bis 2012 sollten die ersten Kyoto-Ziele erreicht werden. In 2012 sollten dann weitere Ziele verhandelt werden, in Doha. Doch in Doha waren zur zweiten Verpflichtungsperiode dann schon Neuseeland, Japan, Russland, die USA und Kanada nicht mehr dabei. Der Rest der Welt machte in Doha nur noch 15 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus. Ein kümmerlicher Rest. So viel zum Thema „Volition der Nationen“. Und: History repeats itself. Auch in Glasgow.
China war in Glasgow schon nicht mehr hochrangig vertreten und hatte überdies seine Klimaziele auf 2060 vertagt. Indien gleich erst 2070 festgeschrieben. Es gibt Think Tanks und Intellektuelle – darunter Ben Shapiro in den USA und Jordan B. Peterson in Kanada – welche die Rettung des Klimas bereits abgeschrieben haben und ihren Followern empfehlen, sich lieber auf die absehbaren Folgen der Katastrophe einzustellen. Wie jene begüterten türkischen Bürger, die sich schon heute in Skandinavien Grundstücke sichern, bevor ihre Heimat versteppt. Sie denken in Szenarien.
Das linearste aller Szenarien sagt: Wenn wir die aktuell verbindlichen Klima-Zusagen in die Zukunft fortschreiben, werden wir bis 2100 nicht die gewünschten zwei Grad Klimaerwärmung erleben, sondern 2,7°. Für ein Arbeitszimmer ist das kein allzu großer Unterschied, für das Weltklima eine Katastrophe. Eine beachtliche Zielverfehlung, die in der öffentlichen Berichterstattung unterging. Man hätte das bei der Gipfel-Berichterstattung aus Glasgow ruhig in jeder Nachrichtensendung wiederholen können. Doch das hätte bedeutet, laut auszusprechen, was jeder bereits ahnte: Diese Leute retten unser Klima nicht. Sie retten uns nicht. Obwohl ihre Motivation riesengroß ist.
Wenn sich die Leitmedien wieder fragen, warum es die Menschheit im Allgemeinen und die Politik im Besonderen nicht schaffen, das Klima und uns selbst zu retten, ist Ihnen zumindest die Antwort jetzt klar: Wir kennen nicht den Unterschied zwischen Motivation und Volition. Dieser ist seit Jahrtausenden einer kleinen Elite handlungsmächtiger Menschen bekannt. Wir können sie, falls wir sie suchen, in jeder Bevölkerungsschicht finden.
Es sind nicht jene, die beim Start eines neuen Projektes „total begeistert“ sind. Begeistert sein kann jeder Zwergpinscher, wenn man ihm ein Leckerli vor die Nase hält (nichts gegen Pinscher). Begeisterung oder auch Motivation sind weder Ersatz noch hinreichende Voraussetzung für Handlungserfolg. Das wissen Handlungsmächtige. Sie sagen es uns auch – wenn wir nur zuhören wollten. Sie sagen zum Beispiel: „Was ich anpacke, ziehe ich auch durch.“ „Ich fange nur das an, was ich auch zu Ende bringen kann.“ „Whatever it takes!“ „Failure is not an option.“ Handlungsmacht ist kein angeborener Charakterzug (sofern es so etwas gibt), sondern eine geduldig an sich selbst ausgebildete Fähigkeit – wie Tennisspielen oder Integralrechnen auch. Und die erste Voraussetzung zum Erwerb dieser Schlüsselfähigkeit ist die Erkenntnis, dass Motivation nicht gleich Volition ist. Was zugegebenermaßen keine leichte Erkenntnis ist.
Denn Volition ist ein relativ neuer Begriff. Man kennt ihn erst, seit der deutsche Sozialpsychologe und spätere MIT-Professor Kurt Lewin ihn ins Gespräch brachte. Das war 1929. Manche brauchen eben etwas länger.