Wir erleben derzeit so viel Negatives: Klimakrise, Corona, überfüllte Intensivstationen, Polen-Belarus, China-USA-Konflikt … Wie schön wäre es, mal wieder etwas Positives, Erfreuliches in den Medien lesen zu können. Etwas, über das sich alle uneingeschränkt freuen können. Aber, natürlich, leider, meilenweit nichts zu sehen am Horizont. Und dann kommt ausgerechnet von einem Discounter ein Video daher, das innerhalb der ersten vier Tage bereits 3,5 Millionen Mal abgerufen wird („Der Wunsch“ // PENNY Weihnachtswunder 2021 – YouTube) und das Tausende Kommentare provoziert wie:
„Ich selbst habe einen 16-jährigen Sohn, der im Moment durch die ganzen Umstände gar keine Zukunftsperspektive mehr hat… Er leidet sehr darunter… ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten…“
„Ufff, ging irgendwie unter die Haut.“
„Als Vater von drei Fasterwachsenen lief es mir eiskalt den Rücken runter. Wieso versteht ein Discounter die Situation einer ganzen Generation so viel besser als die, die sie verbessern könnten?“
Wer es noch nicht gesehen hat, in Kürzestfassung: Mutter und Teenager sitzen am Küchentisch und löffeln ihr Müsli. Fragt der Sohn zwischen zwei Bissen: „Was wünschst du dir eigentlich zu Weihnachten?“ Allein das Sekunden-Mienenspiel der Mutter vor ihrer Antwort ist das Reinklicken wert. Und dann beginnt ohne Vorwarnung eine Tour-de-Force, mit der man wirklich nicht rechnet, wenn man „Werbung“ schaut. Die Mutter sagt:
„Ich wünsch‘ mir, dass du nicht immer zu Hause rumhängst. Dass du dich einfach rausschleichst … oder dass du hier heimlich eine Party feierst.“ Sie zählt weiter auf und wünscht sich alles, worauf eine ganze Generation seit zwei Jahren fast ununterbrochen verzichten muss. Am Ende sagt sie:
„Ich wünsch‘ mir einfach, dass du deine Jugend zurückbekommst.“
Wer danach nicht an den Augen schwitzt, ist in Wasserstoffperoxyd gebadet. Warum rührt ein 3:51-Minuten-Video die Nation zu Tränen?
Gewiss: Die Drehbuchschreiber formulieren mit atemberaubendem Sprachgefühl, die Kameraführung ist bewegt wie in einem Actioneer und gleichzeitig bei den emotionalen Einstellungen extrem behutsam, der Schnitt ist Millisekunden genau perfekt, das Casting hat unter Verzicht auf die übliche Promi-Besetzung so realistisch wie nur möglich besetzt, die Regie ist schlicht genial und die Schauspieler sind um Klassen besser als alles, was man am deutschen Vorabend vorgesetzt bekommt. Und gewiss: Dieses Video wird bei den nächsten Werbe-Oscars alles abräumen, was auf dem Pokalregal steht. Aber warum rührt es uns so an?
Weil es einem großen Teil der Gesellschaft, der seit zwei Jahren empört und berechtigt Ansprüche erheben könnte und der dennoch in dem ganzen medialen Gebrüll totenstill geblieben ist, nie wie die Wichtigtuer, Unkenrufer und Krisentreiber auf die Barrikaden stieg – weil ein simples Video diesem Teil der Gesellschaft eine Stimme gibt. Und nicht nur diesem Teil.
Wir alle sind mittlerweile über alle Gebühr gestresst und gefrustet, emotional angeschossen, tragen eine dünne Haut zu Markte und wünschen uns wieder eine, irgendeine Normalität zurück – und genau diesen Wunsch drückt der Clip handwerklich perfekt und in anrührender Weise aus. Besser als das jemals die Leitartikelkünstler mit ihrer volksfernen Prosa oder die Politiker mit ihrem hilflosen Zeigefinger-Alarmismus jemals hätten tun können – wenn sie es überhaupt jemals gewollt hätten. Hier spricht Werbung etwas aus, zu dem in den zurückliegenden Monaten weder Psychologen, noch Minister oder Seelsorger fähig oder in der Lage waren. Spricht aus, was das Gros der Nation denkt, aber nicht sagen darf, fühlt, aber nicht mitteilen darf. Das ist Kunst. Das kann Kunst. Und sie kann mehr.
Sie schafft etwas, dessen Gegenteil Politik wie Medien und das unselige Internet in den letzten Jahren vehement betrieben haben: Sie eint eine Nation. Wirklich jeder fühlt sich von diesem Clip verstanden. Die größten Konflikte auf nationaler Ebene wie die kleinsten in der Familie entstehen dadurch, dass Nationen oder Familien sich spalten lassen. Und man sieht es den Kommentaren zum Clip an, wie sehr sich Menschen danach sehnen, sich wieder um einen gemeinsamen Herd scharen zu können.
Vielleicht ist es trivial, dass sich eine Mutter für ihren Sohn eine erste Liebe wünscht oder dass er noch eine Weltreise machen kann, bevor die Klimakatastrophe das unmöglich macht. Doch das sind die Sorgen von uns einfachen Leuten. Wir träumen nicht von der Weltherrschaft oder dem konjunkturellen Aufschwung. Wenn wir leiden, dann an den kleinen Dingen, die man uns genommen hat. Und es gibt so viele, denen die Pandemie und eine hilflos reagierende Politik so viel genommen hat. Es gibt so viele weitere Teile der Bevölkerung, die leiden, die nie eine Stimme bekommen haben und die sich danach sehnen, dass sie in ihrem Leid zumindest endlich einmal ernstgenommen werden. Und was machen die, die es eigentlich besser wissen müssten? Sie spalten.
Vielleicht können wir die Pandemie nicht so und nicht so schnell überwinden, wie wir hoffen. Doch wir könnten zumindest damit aufhören, andere zu ignorieren und die Gesellschaft weiter zu spalten. Wir könnten wieder zusammenfinden und das, was zu tun ist, auf eine Art und Weise tun, die uns allen fremd geworden ist. Wir könnten es auf die einzig einigende, gütliche und verbindende Art und Weise tun: gemeinsam.