Wo sind die Chips?

Dieses Jahr ist der Weihnachtsfrust voraussichtlich heftiger als in den Vorjahren. Nicht nur wegen Corona, Klimakrise, Test- und Booster-Schlangen. Sondern auch wegen: Viele Geschenke gibt es nicht, weil sie ausverkauft oder nicht mehr erhältlich sind oder Lieferfristen bis Ostern haben. Das ist frustrierend für uns, unsere Lieben, den Handel, die Hersteller, die Arbeitsplätze und die Supply Chain Manager. Das ist harter Entzug für den Konsumrausch. Viele Plätze unterm geschmückten Baum werden leer bleiben – oder mit Socken, Pullis und Rasierwasser gefüllt werden.

Das wird vor allem dann passieren, wenn Sie etwas verschenken oder selber geschenkt bekommen wollen, das einen Chip braucht. Vom Flachbildschirm übers Smartphone oder gar Auto bis hin zu jeglicher Unterhaltungselektronik: Lieferprobleme. Wegen Chipmangel.

Daran ist natürlich auch Corona schuld, aber vor allem die Digitale Revolution und der Aufbau des neuen 5G-Mobilfunknetzes, der Chips tonnenweise frisst. Hätte man damit nicht rechnen können? Das hätte man, wenn sich die Szenario-Planung stärker allgemein in der Wirtschaft und im Besonderen im Supply Chain Management durchgesetzt hätte. Tatsächlich passierte in einigen Branchen das Gegenteil. Auf dem Zenit einer der ersten drei Corona-Wellen zum Beispiel stornierten oder verschoben viele Einkäufer vor allem einer nicht näher genannten Branche ihre Chipbestellungen, weil die Bänder corona-bedingt vorübergehend stillstanden. Alle dachten nur im Szenario „Zeitstabilitätshypothese: Zukunft ist Vergangenheit“.

Kaum einer dachte und beschaffte im Szenario „Wegen Corona kaufen die Leute wie irre Unterhaltungselektronik, die uns die ganzen Chips wegschnappt – und wenn wir jetzt nicht bunkern, sehen wir in zwei Monaten, wenn unsere Bände wieder anlaufen, alt aus“. Man sah zwei Monate später alt aus. Anstatt zu horten, stornierte man. Als ob es kein Morgen gäbe, kein Szenario, das über den aktuellen Stillstand der Bänder hinausweisen würde. Natürlich gab und gibt es auch in diesen zukunftsmyopischen Unternehmen Professional Futurists, manchmal sogar im Supply Chain Management. Doch irgendwie hatte die Hierarchie noch nicht erkannt, dass sie etwas zu sagen haben. Bei manchen bis heute nicht …

Dafür haben die „normalen“ Supply Chain Manager aktuell schwer was zu sagen. Viele Unternehmen haben begonnen, das, was sie nicht mehr geliefert bekommen, nun selbst zu produzieren. Bosch zum Beispiel investiert 1,4 Milliarden Euro in die Halbleiter-Fertigung. Infineon hat 1,6 Milliarden Euro in ein neues Werk in Villach investiert und erzielt nicht nur deshalb in 2021 voraussichtlich einen Umsatz von 11,1 Milliarden Euro gegenüber 8,6 Milliarden in 2020, was grob mehr als 20 Prozent Zuwachs entspricht – superheftig.

Das tut nicht nur jenen Unternehmen gut, die Chips brauchen, sondern auch den Menschen, die Arbeit suchen. In Villach werden derzeit 250 Fachkräfte für das neue Werk gesucht. Wir kennen unsere Input-Output-Rechnung aus der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung: Auf X neue Fachkräfte in der neuen Chips-Fabrik kommen Y neue Bäckerei-, Fleischerei- und Einzelhandelsfachverkäufer. So werden Jobs geschaffen und eine Region vitalisiert. Der Chip sichert die Zukunft. Branchenweit.

Der Umsatz der Halbleiter-Industrie soll nach Schätzung des Branchenverbandes in 2021 um surreale 25,6 Prozent wachsen. Das ist unglaublich – und bedenklich. Denn Chips sind keine Bio-Bananen. Chips sind nicht wirklich nachhaltig. Sie benötigen seltene Erden, die oft genug von Minen-Sklaven und Kindern geschürft werden. Noch toller wäre der Chip-Boom also, wenn er nachhaltig wäre. Oder wenn alle Handy-Käufer nur noch das Fairphone 4 kaufen würden. Und wenn auf allen Produkten mit Chip das Fairtrade-Siegel drauf wäre.

Oder noch radikaler, nein, essenzieller: Warum überhaupt ein neues Handy? Schon nach 15 Monaten? Und warum das alte wegschmeißen? Man könnte es ja auch gebraucht verkaufen. Oder noch viel radikaler, sinnvoller, weltbewegender, nützlicher, schöner und moralischer: Schenken – ja! Aber muss es denn immer etwas Billiges, Schnelles, Käufliches sein?

Warum nicht etwas schenken, das viel wertvoller, besser, menschlicher, nachhaltiger, würdiger und schöner ist? Zum Beispiel gemeinsame Zeit, Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Respekt, Anteilnahme, Zuwendung, Beachtung, Gemeinschaft, Anerkennung oder Verständnis. Das wären noch viel schönere Geschenke. Nicht nur zu Weihnachten. Das ist ein frommer Wunsch?

Die westliche Welt steckt nun mal im Konsumrausch „Shop till you drop“ fest? Alle menschlichen Geschenke wie gemeinsame Zeit oder Wertschätzung sind für die Menschheit verloren, weil der moderne Mensch die dafür nötigen Fähigkeiten längst verlernt hat?

Das ist eine Schutzbehauptung. Wer sie aufstellt, glaubt sich von der Verpflichtung zu entbinden, es zumindest einmal zu versuchen. Natürlich verbietet es sich, mit den richtig echten authentischen Geschenken erst an Weihnachten zu beginnen. Die Enttäuschungswut der enttäuschten Erwartungen wäre erwartungsgemäß thermonuklear. Ein Bekannter hat es deshalb schlauer angestellt.

Zu St. Nikolaus bekamen seine drei Kinder zwar auch Nüsse, Mandarinen und Schokolade, aber jedes auch ein Brettspiel, die alle drei – Geschwistergerechtigkeit muss sein – noch am selben Abend gespielt wurden. Weil das so toll, ungewohnt, harmonisch und viel authentischer und bedürfniskongruenter war als immer nur Netflix, freuen sich alle schon auf Weihnachten und ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk.

2 Kommentare zu „Wo sind die Chips?

    1. Lieber Rüdiger, bei Ihrer Formulierung ‚ … wenn mal nicht alles nach Plan läuft‘ konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen: Das ist ein schöner Euphemismus für eine neue Ära der Globalisierung; nennen wir sie ab sofort die ‚Post-Globalisierungs-Boom-es-läuft-nicht-mehr-nach-Plan-Ära‘! In Zeiten wie diesen wird Humor zum Produktionsfaktor. Evi Hartmann

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