Trucker Thorsten ist 47, hat drei Kinder und ist ein armer Kerl. Wenn die Büroarbeiter noch selig schlummern, klingelt bei Thorsten schon der Wecker: 4.30 Uhr. Denn wenn er seinen 40-Tonner pünktlich um acht vom Hof fahren will, muss er spätestens um fünf ran: Sichtkontrolle auf eventuelle Mängel am Fahrzeug, Aufnahme und Sicherung der Ladung, Erledigung des ganzen Papierkrams und Ausbügeln der üblichen Nickligkeiten wie: „Wo ist die letzte Palette abgeblieben? Da fehlt laut Ladepapieren doch noch was!“ Das alles kann bis zu drei Stunden Arbeit bedeuten – noch bevor seine eigentliche Arbeit beginnt.
Seine eigentliche Arbeit ist auf der Piste. An jedem Tag legt er mit seinem Truck 500 bis 700 km zurück, natürlich mit den gesetzlichen Pausen- und Fahrzeiten. Heute fährt Thorsten zum ersten Kunden, liefert drei Paletten Lebensmittel bei einem kleinen Discounter ab – wenn er erst einmal zur Rampe käme. Denn dieser Discounter wurde in eine Baulücke gepresst, wovon die Kunden im gut eingerichteten Ladenlokal nichts merken, dafür aber der Trucker, der bei jeder verdammten Fuhre fünf Minuten lang Rangier-Tetris mit seinem Koloss spielen muss. Und das bei einem Arbeitstag, der in Minuten getaktet ist und durch jeden zufälligen Stau so aus dem Programm geraten kann, dass die Kunden schon zehn Minuten vor Thorstens Eintreffen bei Thorstens Disponent ihren Ärger durchtelefonieren. Auch dieser Kunde tobt schon: „Wo bleiben Sie? Der Laden macht auf und die Regale sind leer!“
Thorsten lächelt freundlich und entschuldigt sich, als ob er und nicht die Sperenzchen des Architekten vom Kunden daran schuld wären. „Ich bin eigentlich Seelsorger“, sagt Thorsten nach solchen Verbalattacken. „Im Nebenberuf Trucker. Ein Danke habe ich von meinen Kunden noch nie gehört. Ich bin schon froh, wenn ich nur bei jeder dritten Fuhre zur Schnecke gemacht werde. Und das bis zu acht Mal am Tag.“ Der nächste Ärger wartet schon.
Auf der Landstraße bauen sie mal wieder und haben die Baustelle ausgeschildert, als ob ein SUV das Breiteste wäre, was fahren kann. Die Arbeiter fluchen, als Thorsten vor der Baustelle anhält, sofort zwei Kilometer Stau erzeugt und verkündet: „Und jetzt bitte alle Schilder 50 cm zurücksetzen, sonst mache ich mit dem Außenspiegel massiven Holzeinschlag im Schilderwald!“ Wieder fünf Minuten verloren. „Pro Minute Verspätung nehmen die Vorwürfe des nächsten Kunden um zwei Dezibel zu“, scherzt Thorsten mit verkniffenem Grinsen. „Jeder Arbeitstag ist ein Wettrennen, das jeder von uns schon verloren hat noch bevor der Startschuss fällt.“ Jeden Tag als Verlierer aufstehen und trotzdem weiterkämpfen? Captain America hat keinen halb so stressigen Job.
Thorsten fährt auf die Autobahn auf. Keine fünf Kilometer nach der Auffahrt sichtet er vor sich den ersten Schlingerpiloten. Ein 40-Tonner, der eben noch brav auf der rechten Spur fuhr, schert ohne Blinker unvermittelt nach links aus, erschreckt den dort nichtsahnend dahinfahrenden Polo-Fahrer zu Tode und kurvt ebenso abrupt wieder rechts rein. 300 Meter weiter verliert er plötzlich so viel Tempo, dass Thorsten, der in der LKW-Kolonne hinter ihm fährt, mit einem Adrenalin-Spike von der Höhe der Zugspitze in die Eisen steigen müsste – doch Thorsten bremst nicht.
Er kennt seine Zickzack-Lenker und hat den überraschenden Tempoverlust seines Vordermanns wie der beste fahrende Risk-Manager der Welt seit Minuten antizipiert. Thorsten hatte von der ersten Sichtung des Schlingerers die mittlere Spur im Auge des Rückspiegels, schert jetzt in der Manier eines Formel-1-Fahrers zackig nach links aus und überholt mit Vollgas. Als er auf gleicher Höhe ist, schaut er nach rechts, um herauszufinden, warum sein geschätzter Kollege mitten auf der Autobahn Achterbahn fährt.
Ist der Fahrer hinterm Steuer eingeschlafen? Hat er einen Infarkt? Rasiert er sich nebenher im Rückspiegel? Thorsten grinst: „Ich hätte drauf wetten können. Der schaute Fußball aufm Laptop.“ Thorsten findet das nicht lustig: „Viele schwere Unfälle passieren so.“ Unachtsamkeit.
Die häufigere Unfallursache ist Übermüdung. Nicht, wenn der Fahrer zwischen zwei Aufträgen im eigenen oder einem anderen ordentlichen Bett schlafen kann. Doch auch Thorsten ist oft für mehrere Tage unterwegs. Dann schläft er in seiner Liliput-Kajüte hinter dem Fahrersitz, wie ein Taschenmesser zusammengefaltet auf einem Raum, der kleiner ist als ein Hundezwinger. Thorstens Kumpel Mike, Fernfahrer, hat das einmal in der FAZ gelesen und zitiert bei Gelegenheit: „Jeder Hund, der größer ist als 50 cm, hat Anspruch auf 8 Quadratmeter. So steht das in der Tierschutzverordnung!“ Mike, 1,90 groß, muss sich dagegen zusammenrollen wie eine Seeschnecke, wenn er während der vorgeschriebenen Ruhezeit ein Auge zumachen möchte. Mike: „Das machst du drei Nächte, danach bist du so gerädert wie nach einem 16-Stunden-Rave – und niemand würde einen Raver hinters Steuer lassen.“ Weil es dann absehbar knallt – was es auch häufig tut. Wobei das Schlafproblem schon beim Parken beginnt.
Überall an Deutschlands Autobahnen fehlen LKW-Parkplätze. Keine Dutzenden, keine Hunderte, sondern zehntausende Parkplätze. Was macht Mike also, wenn er keinen findet? Er parkt wild. Auch schon mal vor dem eigentlichen Parkplatz noch in dessen Auffahrt, also praktisch auf der Straße. So passieren jährlich viele Unfälle, wenn der nächste PKW oder LKW, der die Lage zu spät erkennt oder ein wenig zu schnell einfährt, auf den parkierten Truck knallt. Thorsten will das nicht.
Thorsten stellt sich quasi auf den Kopf, fährt von der parkplatzlosen Autobahn runter ins manchmal kilometerweit entfernte Industriegebiet und parkt dort auf dem nächstbesten Hof eines der Betriebe. Das kostet Zeit und Zeit sind Kilometer, die vom Auftrag abgehen. Weder der Kunde, noch Thorstens Chef, noch der Disponent sind glücklich darüber und lassen deshalb regelmäßig ihre Wut an Thorsten aus. Trotzdem macht Thorsten das. Weil er weiß: „Wenn mir ein übermüdeter PKW-Fahrer in den geparkten Laster reinfährt und wir das ewig mit der Polizei abklären müssen, werden die alle noch wütender!“
Wenn Thorsten nach so einer Stressfahrt nach Hause kommt, wartet niemand auf ihn. Thorsten ist geschieden, was bei einer Trucker-Ehe keinen wundert. Thorsten stellt sich unter die Dusche, macht sich Abendessen, schaut fern, geht früh zu Bett und hofft vergebens, dass er sich bis morgen halb fünf in der Früh‘ halbwegs erholt hat. Das hat er garantiert nicht.
Allein in Deutschland fehlen rund 80.000 LKW-Fahrer und jährlich fehlen mehr. Jeder Supermarkt-Kunde hat bereits die untypisch vielen leeren Regalplätze bemerkt, weil mangels Fahrer nicht genügend Laster fahren. Das gab’s in unserer Wohlstandsnation seit dem letzten Krieg noch nie. Leere Regalplätze und zehntausende fehlende LKW-Fahrer – warum?
Fragt Thorsten.