Bad Economy

Alle reden von der Plattform-Ökonomie, alle benutzen sie, kaum einer weiß, was das ist. Zum Beispiel: Lieferando, Deliveroo oder Foodora sind die drei bekanntesten Plattformen beim Essen.

Als Plattform gilt jeder Internet-Anbieter mit sogenanntem Netzwerk-Effekt, das heißt: Lieferando brät das Liefer-Schnitzel ja nicht selbst oder schnippelt die Kartoffeln für den Kartoffelsalat. Lieferando liefert bloß (daher der Name), was andere produzieren und kochen und dann via Lieferando-Internet-Plattform anderen anbieten. Das ist typisch für ein Netzwerk: Es bringt beide Seiten des Marktes auf einem Marktplatz zusammen, der sich selbst reguliert (bei Amazon reguliert im Liefergeschäft nicht der Markt, sondern Amazon). Was ist aus unserem guten alten Kapitalismus geworden?

Eine Plattform. Das ist gut für die Plattformen, die gut verdienen. Das ist auch gut für uns: Wir müssen nicht mehr kochen. Wir lassen kochen und liefern. Und das ist alles andere als gut für die, die mit dem Fresspaket in der Hand ausliefern und an unserer Tür klingeln.

Denn sie werden häufig Opfer der sogenannten Gig Economy. Wer heute noch normal arbeitet, wird nach fester Arbeitszeit bezahlt. Wer für Plattformen arbeitet, wird nach Gigs bezahlt; das ist web-euphemistisch für „Aufträge“. Und die können mal mehr, mal weniger sein. Kein Gig? Kein Geld.

Wir Büroarbeiter haben keine Ahnung, was am Ende vom Monat vom Gehalt übrig bleibt. Das „Heer der digitalen Tagelöhner“, wie die FAZ sie nennt, hat keine Ahnung, wie viel oder eher wenig es in jedem Monat verdienen wird. Wer in einem schwachen Monat von seiner Plattform zu wenig Gigs kriegt, hungert eben. Früher hätte man das Armut genannt, heute heißt das Gig Economy. Es gibt keine Sauerei, die durch einen flotten Anglizismus nicht zum Fortschritt erhoben werden könnte. Gig Worker werden auch anderweitig benachteiligt.

Während wir unserem Arbeitgeber unsere Arbeitsleistung zur Verfügung stellen, muss der Gig Worker oft auch sein Auto und sein Handy dransetzen. Und natürlich deckt sein Honorar nicht die volle Höhe deren Nutzungs-, Abschreibungs- oder geschweige denn Wiederbeschaffungskosten. So clever (oder unfair) kalkulieren einige (nicht alle) Plattformen. Warum lassen Menschen das mit sich machen?

Mit „Menschen“ sind nicht die Besteller gemeint. Denn die sind mehrheitlich gewissenlos. Zumindest habe ich noch keinen Kunden sagen hören: „Ich gebe dem Lieferfahrer jedes Mal üppig Trinkgeld, damit er wenigstes null auf null rauskommt.“ Warum erdulden viele Lieferfahrer die strukturelle ruinöse Selbstausbeutung?

Weil viele den Unterschied zwischen Honorar und verfügbarem Einkommen nicht kennen. Sie rechnen das nicht durch – sie fahren einfach mal. Erst nach Monaten merken dann einige, wenn überhaupt, dass das Geld immer weniger wird oder dass sie sich keinen neuen Gebrauchten leisten können, obwohl sie den alten für die hippe Plattform bis zur Totalabschreibung gefahren haben. Dann schmeißen sie hin, was die meisten Plattformen nicht juckt. Denn hinter jedem, der hinschmeißt, warten zehn, die auch (noch) nicht rechnen können. Dabei muss man noch nicht einmal rechnen können.

Es reicht schon, wenn man sich vorstellt: Als moderner Liefersklave hat man keinen Anspruch auf bezahlte Urlaubs- und Krankheitstage. Weder die Plattform noch die Besteller bezahlen den Arbeitgeberzuschuss zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Genau genommen kann so ein (Schein)Selbstständiger nicht einmal mehr arbeitslos werden. Er genießt auch keine betriebliche Mitbestimmung. Sämtliche Errungenschaften seit Bismarck, die aus dem Kapitalismus eine soziale Marktwirtschaft machten, sind auf etlichen Plattformen abgeschafft. Für diese Entrechtung war keine Revolution, kein Krieg und keine brutale Unterdrückung des Proletariats nötig. Das hat das Internet auch so geschafft; Marx rotiert im Grabe. Warum um Himmels willen lassen sich vernünftige Menschen derart ausbeuten?

Die Antworten sind leider bekannt. Laut Statistik sind 20 bis 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung in den USA und den EU-15-Staaten in so einem prekären Arbeitsverhältnis gefangen. Davon machen es mehr als die Hälfte auf eigenen Wunsch, als zusätzliche Einkommensquelle, weil das Ersteinkommen nicht ausreicht. Nota bene: Die machen das „auf eigenen Wunsch“. Also nicht freiwillig, sondern weil Teile unserer Wirtschaft in die Frühindustrialisierung regrediert sind: Es gibt inzwischen wieder Arbeit, die nicht mehr zum Leben reicht, von der man nicht leben kann. So viel zum Euphemismus „soziale“ Marktwirtschaft.

Rund 30 Prozent von denen, die im Prekariat stecken, machen das, weil sie keine Alternative haben oder sehen. Sie finden oder bekommen keinen „normalen“ Job – aus verschiedensten Gründen. Einige halten gesundheitlich nicht acht Arbeitstagstunden durch.  Andere kompensieren ihre Erlebnisse in Elternhaus und Schule mit einem übersteigerten Autonomiestreben, das sie auf Chefs und Kollegen allergisch macht. Wieder andere wollen ihre Lebenszeit nicht einer Stechuhr opfern, sondern frei über ihr Leben bestimmen wollen.

20 bis 30 Prozent der arbeitenden Bevölkerung arbeiten prekär? Das ist eine Menge. Wo sind die denn alle?

Schauen Sie sich um: Wer am späten Nachmittag oder abends an einem Restaurant (falls während Corona noch offen) vorbeifährt, sieht in jeder größeren Stadt die Lieferfahrer davor Schlange stehen. Und wer sich im innerstädtischen Stau umsieht, erkennt unschwer die Flotte der Lieferräder und -autos. Die modernen Arbeitssklaven sind überall. Wohin soll das noch führen?

In eine neue 2-Klassen-Gesellschaft. Einige von uns arbeiten noch 9 to 5, während andere für sie kochen, liefern und fahren, damit sie etwas zu essen haben. Der Neo-Kapitalist arbeitet seine acht Stunden, während das Gig-Proletariat 24 Stunden mit Kochlöffel, Rad oder Auto auf Abruf steht, um uns mit allem zu versorgen, was zwar wir, aber sie sich nicht mehr leisten können. So lässt sich’s leben!

Wer hilft dem armen Gig Worker? Keiner. Gig Worker haben keine Gewerkschaft, die für sie kämpft und streitet. Sklaven hatten ja auch keine Gewerkschaft! Es gibt auch kein übergreifendes Gig-Gesetz, bislang lediglich einzelne Gerichtsurteile, keine EU-weite Regulierung. Die EU reguliert Atomkraftwerke als grün, lässt aber den modernen Sklaven auf der Straße stehen – oder besser: fahren. Es liegen inzwischen über 100 Gerichtsurteile vor, bei denen Sklaven ihre Auftraggeber verklagt haben – aber noch immer kein übergreifendes Gesetz, das verhindern würde, dass der Sklave vor Gericht ziehen muss, um zu seinem Recht zu kommen. Wo ist Spartakus, wenn man ihn braucht?

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