Jeder passt auf jeden auf

So würde Nachhaltigkeit in der Welt funktionieren, das heißt in unseren Lieferketten. Der Hersteller achtet darauf, dass sein Tier-1-Lieferant nachhaltig liefert, der Tier-1-Lieferant achtet darauf, dass es der Tier-2-Lieferant tut … und so weiter, bis zum allerersten Lieferanten in der Kette; auch Kaskadeneffekt genannt. Gute Idee? 

Absolut. Gut, nötig und unrealistisch. Denn so funktioniert die Welt nicht. 

Wenn wieder irgendeine Sauerei am Laufen ist, kriegt der Hersteller zwar, sagen wir, die Salmonellen in der Schokolade mit, aber nicht (immer und auf Anhieb), an welcher Stelle der Kaskade sie reingekommen sind. Genau das ist das eigentliche Problem der Nachhaltigkeit, über das kaum jemand in der öffentlichen und medialen Diskussion spricht. Irgendein Shitstormer schreibt auf Instagram, dass irgendetwas Übles in einem Produkt drin ist und kann das auch glaubhaft belegen – aber keiner hat auch nur den blassen Schimmer, bei welchem von 120 Lieferanten in 32 Ländern auf vier Kontinenten der Dreck reingekommen ist. In einem Wort: Intransparenz. 

Alle reden über Nachhaltigkeit, wenige über Transparenz. Wie wäre es mal mit einer Freitagsdemo für Transparenz? 

Bis zu 90 Prozent eines modernen technisch komplexen Produkts kommen heutzutage nicht mehr vom Hersteller, sondern von den Hunderten, manchmal Tausenden Lieferanten. Das Problem ist:  Sagt Lieferant X auf Tier Y, dass er Milch verschüttet hat, wenn er Milch verschüttet hat? Nicht in einem Liefernetzwerk mit Machtgefälle: Ich Tarzan, du Jane, ich großer OEM, du kleiner Lieferant und was willst du überhaupt? Schon wieder Milch verschüttet? Konventionalstrafe!

Da hält doch jeder rationale Lieferant und Milchverschütter erst einmal den Mund und hofft, dass es schon nicht rauskommt, wenn es die Lieferkette hochwandert. 

Alternatives Szenario: Eine Lieferkette, die nicht auf asymmetrischer Machtverteilung basiert, sondern auf etwas, das die meisten Menschen des 21. Jahrhunderts beruflich noch nie nachhaltig erlebt haben, weil es so utopisch ist: echte Kooperation. In einer echten Kooperation hebt jeder sofort die Hand, wenn Licht im Keller brennt, weil: Keiner wird abgewatscht, wenn er die Hand hebt. Mehr noch: Alle kooperieren, um das Licht zu löschen. Wer würde nicht gerne in so einer Welt arbeiten? Das wollen wir alle. Doch das kann nochmal 40.000 Jahre dauern – wenn überhaupt. 

Ebenso wahrscheinlich ist nämlich, dass wir in 40.000 Jahren immer noch nicht vernünftig geworden sind: Besuchen Sie jeden Schulhof, jede D-Jugend-Jungsfußballmannschaft, jede sechsköpfige Mädelsclique, jeden Kegelclub, jede Familie beim Familienkrach. Machtgebaren statt Kooperation. Kooperation kennen wir, aber Macht ist uns lieber, da einfacher. Also wird das absehbar auch nichts mit der Kooperation in vielen Lieferketten und damit mit der Transparenz und damit mit der Nachhaltigkeit. Eben weil der Mensch lieber auf Macht als auf Kooperation setzt. 

Genau diesen menschlichen Makel machen sich nun einige Start-ups zunutze, welche die dunkle menschliche Natur kennen und auf Basis dieser Dunkelheit Software entwickeln: Wenn wir schon nicht miteinander kooperieren, dann könnten wir doch zumindest das Gras wachsen hören. Wenn ein Lieferant, sagen wir, in Asien beispielsweise kurz vor dem Ausfall steht und sich nicht traut, das transparent zu machen, dann könnte dies die Gras-wachsen-hören-Software für ihn übernehmen, die zum Beispiel meldet: „Neues Gesetz in Land X – Zulieferindustrie von Ausfall bedroht!“ Wenn wir es schon nicht können, dann kann wenigstens die Software durch Auswertung von Indikatoren und schwachen Signalen erkennen, wann der sprichwörtliche Sack Reis in China umfällt und einen Kaskadeneffekt auslösen könnte. Solche Software gibt es schon, einige Konzerne arbeiten bereits damit, darunter Porsche. 

Selbst der Macht-Aspekt wird von der Software aufgenommen: Wenn die Software eine Warnmeldung bringt, können die betroffenen Zulieferer die Meldung kommentieren und gegebenenfalls dementieren. Das verbessert die Transparenz und tatsächlich auch die Kooperation. Wenn wir schon die hohe Kunst der echten Kooperation noch nicht beherrschen, so können wir uns zumindest per Software Riesenohren wachsen lassen.