Wir kaufen bei Amazon ein. Wo kaufen Hersteller, Händler, Handwerker oder Werksstätten ein? Bei ihrem eigenen Amazon. Davon gibt es mehrere; es sind sogenannte Virtuelle Marktplätze.
Da ist zum Beispiel ShareHouse, ein Marktplatz für Lager- und Logistikdienstleistungen. Wenn beispielsweise der von Lieferketten-Unterbrechungen gebeutelte Photovoltaik-Monteur mehr Material vorhalten möchte, aber in seinem Lager dafür keinen Platz mehr findet, kann er welchen bei ShareHouse anmieten. Kann er? Konnte er. Denn der Marktplatz hat Ende März sein europäisches Angebot eingestellt und sich nach Südafrika zurückgezogen. Typisch Start-up: sehr agil, das heißt schnell auch wieder weg.
Oder wenn der Hersteller von Sonnenblumenöl die explosionsartig gestiegene Nachfrage im Handel nicht mehr bedienen kann, weil ihm die LKW zur gesteigerten Auslieferung fehlen, klickt er sich bei Carrypicker ein und sieht sofort freie Lade- und Transportkapazitäten; Slogan: „Der beste Weg von A nach B führt jetzt über C“ wie eben Carrypicker.
Beide Namen noch nie gehört oder gelesen? Das liegt nicht nur daran, dass wir Konsumenten hauptsächlich Amazon, Ebay, Zalando und Konsorten kennen, sondern dass viele Virtuelle Marktplätze eben Start-ups und erst seit kurzem da sind. Start-ups sind für gewöhnlich klein, doch jetzt steigen zwei Riesen ein: Bosch und Amazon Webservice AWS. Sie bilden eine Strategische Allianz für einen gemeinsamen Virtuellen Marktplatz für logistische Dienstleistungen. Warum? Weil das The Next Big Thing ist.
Beide prognostizieren bis 2030 einen Anstieg des globalen Warentransports um mehr als 40 Prozent. So viel zum Thema Deglobalisierung. Die Welt wird nicht weniger, sondern immer stärker vernetzt. Das verstehen viele nicht, die überall das Ende der Globalisierung erkennen wollen. Dabei ist es einfach: Warum sollte ich in Buxtehude eine Kugellager-Firma für 30 Millionen Euro hochziehen (und fünf Jahre auf die Baugenehmigung warten), wenn ich die Kugellager inklusive Frachtkosten in Malaysia immer noch 30 Prozent billiger kriege? Trotz Krisen, Kriegen und Pandemien herrscht in einer Marktwirtschaft immer noch das Primat des Preises.
Amazon und Bosch sind nun die Strategische Partnerschaft eingegangen, um eine sogenannte Digitale End-to-End-Wertschöpfungskette zu erzeugen. Das ist eine Millionen-Investition (wobei keiner der beiden Partner eine Zahl nennt). Doch das ist die Zukunft.
Früher galt: Wer das Produkt hat, macht den Gewinn. Heute gilt: Wer die Lieferkette hat, macht das Geschäft. Deshalb soll der neue Marktplatz Transport- und Logistikdienste verfügbar machen und Ende dieses Jahres in Europa, Indien und den USA online gehen. Auf der Hannover Messe Ende Mai wird er offiziell vorgestellt. Wenn er online ist, funktioniert und angenommen wird, ist gut vorstellbar, dass über diesen Marktplatz Millionengeschäfte getätigt werden – täglich. Und zwar nicht nur, damit alle Beteiligten gut daran verdienen; es sei ihnen gegönnt. Wer innoviert, soll belohnt werden. Sondern auch, weil bislang – so seltsam das in Zeiten der totalen Vernetzung klingt – schwere systemische Probleme im Transport herrschen.
Eines davon: Weltweit sind über 95 Prozent der Transport- und Logistikunternehmen kleine und mittlere Betriebe, was leider immer noch synonym ist mit: schwach vernetzt, ohne eigene Plattform, ohne Anbindung an eine fremde Plattform, oft sogar ohne eigene aktuelle Website. Und teilweise mit sehr kleinem Fuhrpark. Neun von zehn Unternehmen unterhalten weniger als fünf Fahrzeuge. Zusammen ergibt ihre schiere Anzahl zwar eine veritable Transport-Armada. Doch diese nützt keinem etwas, wenn zum Beispiel der IT-Dienstleister in Berlin Mitte dringend neue Hardware braucht, aber sämtliche Spediteure im Umfeld überbucht sind und keiner beim IT-Haus zufällig von der winzigen Spedition in Charlottenburg weiß, deren zwei von fünf LKW händeringend nach Aufträgen suchen und keine finden, weil sie keinen Marktplatz haben. So bringt der neue Marktplatz zusammen, was zusammengehört – das Amazonprinzip. Trotzdem leben wir ganz offensichtlich immer noch im Zeitalter der Knappheit.
Ganz früher waren Güter knapp. Zwischendurch mal das Geld. Heute ist Information das knappe Gut trotz (oder wegen) Internet. (Fast) alles, was gebraucht wird, ist irgendwo in irgendeiner Form vorhanden – wenn dieses Irgendwo einfach nur klar wäre. In der klassischen Antike zogen die Zucchini-Bauern der Region regelmäßig auf den Athener Marktplatz, um ihre Ware anzubieten. So funktionieren der Handel und die Welt. Schön, dass wir das im Zeitalter der Digitalisierung langsam mal mitbekommen.