Wichtiger als Gold

Aktuell wird darüber verhandelt, wann der Gesetzgeber Verbrennungsmotoren verbieten wird. Die Medien berichten darüber: ein großes Thema. Keine Schlagzeilen macht dagegen, woher das Lithium für die Akkus kommen soll, mit dem Milliarden E-Autos dann fahren sollen. Entweder ist es kein Thema, weil der öffentliche Diskurs strikt sensations- und skandalorientiert ist und so weit voraus nicht mal im Traum denken würde.

Oder es ist kein Thema, weil die Diskutanten nicht mitbekommen haben, dass neben dem Ladenetz einer der Engpässe der E-Mobilität dieses Leichtmetall ist. Das ist ein verbreiteter Bias, der Berühmtheit erlangte, als ein süddeutscher Ministerpräsident bei einer Veranstaltung seiner Partei vor laufender Kamera einen Parteikollegen anpflaumte, der lauthals mehr E-Autos gefordert hatte: Woher soll denn der ganze Strom dafür kommen? So weit hatte der Parteifreund nicht gedacht. Erst fordern, dann denken.

Laut einer Prognose von Stormcrow Capital wird sich die Lithium-Nachfrage für Akkus bis in drei Jahren mehr als verdoppeln. So schnell weitet sich kein Rohstoff-Angebot aus. Das liegt nicht an der relativen Seltenheit des Metalls: Lediglich 0,006 Prozent der Erdkruste bestehen aus Lithium. Es liegt vielmehr daran, dass die Förderkapazitäten nicht schnell genug gesteigert werden können. So eine Mine ist kein Pop-up-Store.

Das gesamte Weltvorkommen an Lithium wird auf 40 Millionen Tonnen geschätzt. Alle Minen der Welt schaffen jedoch höchstens 14 Millionen Tonnen. Ergo: Es wäre genug Lithium da – doch wir bekommen es nicht schnell genug aus dem Boden, um mit der explodierenden Nachfrage nach Akkus in Autos, Garten- und Heimwerkergeräten, Rasierern, Zahnbürsten, Handys und Notebooks schritthalten zu können.

Laut der aktuellen Klimaziele sollen bis 2030 hierzulande 15 Millionen E-Autos fahren. Womit? Und wo wird das diskutiert? Höchstens in den Branchenmagazinen. Dort beklagen die Kommentatoren bereits jetzt eine Versorgungslücke bei Lithium, die je nach Szenario einen fünf- bis sechsstelligen Tonnenbetrag ausweist. In einer sozialistischen Planwirtschaft würde dieses Defizit durch Steigerung von Förderung und Verarbeitung weggeplant werden, damit Jahr für Jahr der Plan unterschritten werden kann, was angeblich die Schwäche der Zentralplanwirtschaft ausmacht. Wie gut, dass wir eine Demokratie mit angeschlossener Marktwirtschaft (oder umgekehrt?) haben.

Da muss man nichts planen, von Staats wegen. Da verbietet man einfach den Verbrenner oder setzt Klimaziele in Höhe von Millionen E-Autos und geht wie selbstverständlich davon aus, dass es die Wirtschaft oder Adam Smiths Unsichtbare Hand schon richten werden. Wozu hat man denn „Die Wirtschaft“? Da merkt man wieder einmal schmerzhaft, dass Lieferketten-Kompetenz kein Schulfach ist. Sonst hätte doch schon mal jemand von den Damen und Herren, die in den einschlägigen Talkrunden sitzen, die Supply Chain bis zur Quelle hochgedacht, den Finger gehoben und gesagt: Satz mit X, wird wohl nix. Es sei denn, wir schürfen auf dem Mond.

Kein Witz, keine Utopie, sondern bitterer Ernst. Eben weil die Minen auf der Erde wegen diverser politischer und umweltrechtlicher Gründe nicht so schnell ausgeweitet werden können, plädieren einige Experten seit einiger Zeit für eine lunare Förderung. Nicht nur wegen des Lithiums. Auch sonst ist der Mond ein bislang noch unberührtes Schatzkästchen: Eisen, Titan, Gold, Platin, Iridium … So gesehen könnte das Wettrennen zum Mond der 60er-Jahre doch noch zu etwas gut sein. Jetzt müssen nur noch die Bagger und die Kumpels hoch. Wer eröffnet die erste Mondmine mit angeschlossener Lunar Supply Chain? Wer bewirbt sich auf die offenen Stellen? Baggerfahrer auf dem Mond – das hat doch was! Warum überhaupt?

Weil die weltgrößten Förderländer Bolivien, Argentinien, Chile und Australien nicht schnell genug ausreichend Minen in den Boden schlagen können. Allein im Dreieck zwischen Bolivien, Argentinien und Chile lagern 70 Prozent der Weltvorkommen an Lithium. Deren Abbau zerstört bereits heute die Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung. Denn über den Vorkommen wohnen Menschen. Viele Menschen. Und wo geschürft wird, wächst kein Gras mehr. Auch nichts mehr, womit man die Familie ernähren könnte. Von wegen E-Autos sind nachhaltig!

Das sind sie nur, wenn man erst dann die Augen aufmacht, wenn sie bereits auf der Straße fahren und nur noch Wasserdampf ausstoßen. Dass sie zuvor in der Produktion Tonnen von CO2 ausstießen und dass sie der Alptraum bei der Entsorgung sind, klammern wir mal aus, denn sonst sähe die ökologische Nachhaltigkeit nicht mehr so toll aus. Dito soziale Nachhaltigkeit: Dass bei der Lithiumförderung indigene Völker vertrieben oder schlimmstenfalls ausgerottet werden, damit wir mit dem E-SUV unsere Kinder die 500 Meter zur Schule fahren können, weil sie ein Fahrrad ausschließlich als Mountainbike im Gelände kennen, ist doch wohl eher das Gegenteil von sozialer Nachhaltigkeit. Wen juckt’s?

Wir sind sowas von globalisiert – nur nicht im Kopf. Da denken wir immer noch lediglich bis zur eigenen Nasenspitze, respektive Kühlerhaube. Wer Globalisierung sagt oder nutzt, muss auch Lieferkette sagen und sie bis zur Quelle raufdenken können. Und wenn an der Quelle der Bär steppt, dann kann man am Ende der Lieferkette nicht das E-Auto als Retter der Nachhaltigkeit feiern. Man fühlt sich an die gefeierte Amazon Prime-Serie „The Boys“ erinnert, in der jeder anfängliche Superheld bei genauerer Betrachtung (spätestens in Staffel 3) sich in sein Gegenteil verkehrt.

Wir leben nicht im Informationszeitalter, sondern in der Ära des Dumbing Down. Wirklich jedes entscheidende Vorhaben unserer Zeit wird öffentlich anhand seiner hehren Ziele diskutiert: Sind sie zu hoch? Zu spät? Zu (wenig) anspruchsvoll? Kaum jemand verschwendet auch nur einen Gedanken, geschweige denn einen weitschweifigen Diskussionsbeitrag sonntagabends im TV, an den Flaschenhals, den Engpassfaktor, die prohibitive Restriktion, den Show Stopper, den Target Killer, das alles überragende Hindernis, das den kritischen Pfad der Zielerreichung definiert. Als ob wir in einer Welt ohne Restriktionen leben würden. Unsere Handys werden seit Jahren als „smart“ bezeichnet. Wann werden wir’s?