Eher die Großen. Sie haben die Mittel und die Methoden. Und trotzdem: Wer von ihnen – oder von uns – hat schon mit Corona gerechnet? Vor vier Jahren? Wer mit der Ukraine-Invasion – im Herbst letzten Jahres? Wer mit der massiven und anhaltenden Inflation – im Januar? Aber: Schnee von gestern. Schlimmer als die aktuelle Katastrophe ist immer was?
Die nächste.
Was darf’s sein?
Und wer erkennt es früh genug? Wie gesagt: Eher die großen Unternehmen. Sie haben eigene Abteilungen für Risk Management und Risiko-Experten, die nichts anderes machen als Risiko. Ohne Zuständigkeit kein Risikomanagement: What gets organized, gets done. Wenn man groß genug ist. Die meisten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) schauen in die sprichwörtliche Röhre, die tatsächlich ein geladener Gewehrlauf ist. Schöne Aussichten.
Ihr Risikomanagement besteht in vielen Fällen vollumfänglich aus dem berüchtigten Bauchgefühl des Managers oder Eigners. Oder aus einem sensationellen Bias, der sich in Äußerungen artikuliert wie: „Wir brauchen kein Risikomanagement – wir machen Krisenmanagement!“ Noch besser: „Risikomanagement ist doch heutzutage überflüssig! Wir managen nämlich agil!“ Man steht fassungslos daneben. Das ist steigerungsfähig.
Denn tatsächlich sind kleine und mittlere Unternehmen das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Wenn dieses Rückgrat unter dem Ansturm der nächsten oder übernächsten Krise bricht oder eine Ischialgie entwickelt, haben wir eine Katastrophe, die jede denk- oder erinnerbare Dimension sprengt. Die Zahlen (2019) zeigen: 81,9 Prozent aller deutschen Unternehmen sind klein oder mittelgroß. 56 Prozent aller erwerbstätigen Deutschen arbeiten bei KMU’s. 42 Prozent der Bruttowertschöpfung stammen von KMU’s und 29 Prozent des gesamten deutschen Umsatzes. Bricht das alles weg, weil mal wieder das KMU-Risikomanagement versagt oder immer noch nicht vorhanden ist, erleben wir eine Rezession, Arbeitslosigkeit und Armut, gegen welche Weltfinanzkrise 08/09, Corona, Ukraine und Inflation zusammengenommen wie ein schüchterner Schluckauf anmuten. Und das ist noch nicht einmal Schwarzmalerei.
Denn nie – mit Ausnahme der Säbelzahntigerbedrohung vor 12.000 Jahren – waren die Zeiten riskanter als gerade jetzt. Wir leben in VUCA-Zeiten. Genauer: lebten.
Denn selbst das unheilschwangere Akronym von den Zeiten voller Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität ist inzwischen von der Krise überholt. Seit den letzten drei Katastrophen spricht man von BANI: Brittle – Anxious – Non-Linear – Incomprehensible. Brüchig – Ängstlich – Nicht-Linear – Unbegreiflich. Schlimmer geht’s immer – der inoffizielle T-Shirt-Spruch des Risikomanagements. Besser wird’s nicht.
Zumindest nicht absehbar oder schnell. Einziger logischer Schluss: Auch und gerade die kleinen und mittleren Unternehmen müssen risiko-fit und damit zukunftstauglich werden! Daher: Risikomanagement einführen oder professionalisieren! ASAP oder zumindest schneller als die nächste Krise kommt. Denn die nächste Krise kommt bestimmt. So viel zur Motivation für die Professionalisierung des Risikomanagements. Nun zu den Hindernissen.
Derer gibt es viele. Die Großen haben die Ressourcen, das Geld, die Leute, die Abteilungen, das Know-how, die Instrumente und Methoden und vor allem die Zeit für ein professionelles Risikomanagement. Die Kleinen und Mittleren haben so gut wie nichts davon. Das ist für jedes kleine oder mittlere Unternehmen schlimm. Schlimmer ist es für alle unsere Lieferketten, die sich naturgemäß aus unzähligen kleinen und mittleren Unternehmen zusammensetzen. Deshalb brechen doch gerade so viele Lieferketten zusammen oder schalten auf Störung, wie jeder Supermarktkunde seit Monaten vor abwechselnd leeren Regalplätzen miterleben kann. Supply Chain Management live.
Wobei ein risiko-blindes Unternehmen in einer Lieferkette als Flaschenhals schon schlimm genug ist. Bei mehreren multiplizieren sich die Risiken zu unkalkulierbaren Disruptionen. Das wissen oder ahnen selbst jene, die kein oder kein brauchbares Risikomanagement unterhalten. Warum berappeln sie sich dann nicht?
Weil: Eine Schwäche kommt selten allein. Wer Risiko nicht kann, kann meist auch nicht Digitalisierung. Wie wir alle noch dunkel aus Schule oder Studium erinnern: Risikoberechnung geht nur schlecht von Hand. Besser digital. Und nicht nur das. Auch ein Risiko korrekt zu bewerten, benötigt eine Menge Daten, die niemand aus dem Karteikasten oder aus der Zeitung beschafft, sondern aus dem Internet, der Cloud oder aus speziellen wissenschaftlichen oder Risiko-Datenbanken. Ergo: Wer Risiko können will, muss digital sein. Viele haben das noch nicht erkannt.
Nicht nur das: Laut Umfragen zeigen viele kleine und mittlere Unternehmen auch keinerlei Absicht oder gar Planung, demnächst ausreichend zu digitalisieren. Das liegt nicht nur an den Kleinen und Mittleren. Das liegt auch daran, dass das Supply Chain und Risk Management der Großen sich gegenseitig blockiert. Viele Große haben ihr eigenes Risikomanagement-System, gehen damit auf ihre kleinen und mittleren Lieferanten zu und sagen: „Ihr müsst unser System übernehmen!“ Worauf diese antworten: „Danke, aber nein Danke. Denn dann laufen bei uns zwei Dutzend unterschiedlicher Systeme parallel.“ Die Kleinen werden von überbordenden Systemanforderungen erschlagen und machen dann einfach gar nichts. Sie stellen auf stur oder warten erst mal ab, was individuell durchaus rational erscheint.
Anstatt die Kleinen zu unterstützen, setzen die Großen sie unter Druck. Besser wären Standardisierung und Kooperation, welche die Regierung mit einer Ausnahme vom Wettbewerbsrecht (begrenzte Aufhebung des Verbots von Absprachen) unterstützen könnte. Doch der Regierungsapparat selbst ist nicht besonders risiko-smart, wenn wir Prognose und Bewältigung der letzten Krisen betrachten. Selbst wenn, wäre noch ein Problem damit nicht gelöst: Vertrauen.
Soll Risikomanagement über eine komplette Lieferkette funktionieren, müssten sich alle genug vertrauen, um ihre Daten rauf und runter gegenseitig auszutauschen. Das wäre sinnvoll. Doch „sinnvoll“ war noch nie eine zentrale Größe bei kurzfristiger Gewinnmaximierung in einem Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb und Konkurrenz basiert. Neu ist alles das nicht.
Im Grunde ist das alles so alt wie Wirtschaft, Menschheit und Evolution. Wir haben uns seit 40.000 Jahren ständig an veränderte Gegebenheiten angepasst. Das haben wir getan, seit und indem wir aus der Ursuppe gekrabbelt sind. Das haben (fast) alle Lebewesen getan. Das ist nicht die Frage. Die Frage ist: Wo sind jene, die es nicht getan haben? Wo sind die Saurier? Gehen wir ihren Weg? Oder schaffen wir es, uns auch diesmal schnell genug anzupassen? Wer schafft es schnell genug? Das sind die Überlebenden der nächsten Krise und der übernächsten und der …
Früher galt: Wer gute Produkte hat, hat den Erfolg. Dann kam: Wer den besseren Preis hat. Dann: Der mit der effizienteren Lieferkette. Inzwischen sieht alles nach einem erneuten Paradigmenwechsel aus: Wer besser Risiko kann, überlebt und hat Erfolg.
Liebe Fr. Hartmann,
eine treffende Situationsanalyse. Aber das genügt meiner Meinung nach nicht. Wir brauchen Konkretes und das fehlt mir. Mir fehlt die Antwort auf die Frage nach dem WIE. Wie schaffen es Unternehmen JEDER Größe, in einem solchen VUCA/BANI-Umfeld zu bestehen? Wie können Unternehmen konkret handeln und zwar sofort? Eine konkrete Handlungsempfehlung also. Und dazu gibt es eine mögliche Antwort: Digitalisierung/digitale Transformation über den prozessgesteuerten Ansatz! Warum kein Hinweis darauf?
MfG,
Volker Stiehl
Weil Sie, lieber Volker, eben diesen wesentlichen Hinweis gegeben haben. Wir hoffen hier am Lehrstuhl ja immer, dass nicht nur mitgelesen und -gedacht, sondern auch mitdiskutiert wird. Deshalb habe ich im Blog mit „Wer Risiko nicht kann, kann meist auch nicht Digitalisierung“ lediglich dezent auf eine konkrete Handlungsempfehlung hingewiesen. Jetzt haben Sie diesen leisen Wink deutlich verstärkt, ein großes Wort gelassen ausgesprochen und unser aller Dank für einen Hinweis zu einer Diskussion verdient, die angesichts der vielen Krisen deutlich intensiver geführt werden sollte. Evi Hartmann