Seit die Lieferketten zusammenbrechen, lernt die Nation ein neues Fremdwort: Supply Chain Management. Wie immer bei heißen Themen: viel Meinung, wenig Ahnung. Kaum einer, der jetzt enthusiastisch mitdiskutiert, weiß so recht, was SCM ist – kein Vorwurf: Bis 1981 wusste das niemand.
Erst 1981 wurde der Begriff geprägt, vom Berater-Duo Oliver und Webber, das damals bei Booz Allen Hamilton für Operations Management zuständig war. Logistik gibt es bereits seit dem Neandertal, SCM streng genommen erst seit den 80ern. Und wie immer bei zentralen Begriffen kursieren zeitgleich zahllose Definitionen, von denen sich noch keine alleingültig durchgesetzt hat. Cooper und Ellram definierten SCM noch 1990 als integrativen Ansatz, der einen Absatzkanal vom Lieferanten bis zum Konsumenten steuert. Doch bereits 1996 wies Harland daraufhin, dass inmitten einer galoppierenden Globalisierung kaum von „Absatzkanälen“ die Rede sein kann, sondern vielmehr von Liefernetzwerken, in denen praktisch alle mit allen verbunden sind. Trotzdem haben bis heute viele nicht den Schuss gehört.
Zum Beispiel jene, die immer noch Logistik und Supply Chain Management synonym verwenden. Dabei kann man sich als Faustregel merken: Logistik ist Versorgung und Transport; SCM ist Logistik auf globalem Niveau in schier endlos verzweigten, hoch komplexen und dynamischen Wertschöpfungsnetzwerken. Der Komplexitätsgrad macht den Unterschied. Und die Implikationen: Supply Chain Management wird gerade in Zeiten der Krise nicht mehr „nur“ als BWL-Teildisziplin verstanden, sondern als neuen Ansatz für die komplette BWL.
Dieser neue, umfassende Ansatz integriert alles, was eine Nation und ein Unternehmen in turbulenten Zeiten braucht, um steuerungsfähig zu bleiben: Logistik, Beschaffung, Produktion, Absatz, Unternehmensführung, -steuerung und -rechnung. Allein aus den Erfordernissen von Komplexität und Disruption ergibt sich fast automatisch so etwas wie das Primat des Supply Chain Managements. Früher war jenes Unternehmen erfolgreicher, das die besseren Produkte hatte; heute jenes, das die besseren Wertschöpfungsnetzwerke und damit die besseren Supply Chain ManagerInnen hat. So einfach ist Erfolg im 21. Jahrhundert. Einfach, aber nicht leicht.
In Zeiten knapper Güter übernimmt das SCM die Federführung sowohl strategisch wie auch operativ. Anders ausgedrückt: Zukunftssichere Jobs! Gut bezahlt und vor allem: Krisensicher! Tatsächlich umso sicherer, je krisenhafter die Zeiten. Daher in immer mehr Unternehmen mit Vorstandsrang. Der beste Krisenmanager ist heutzutage ein gut ausgebildeter Supply Chain Manager.
Wer sonst sollte Hunderte bis Tausende Vor-Vor-Vorlieferanten in wechselseitigen Abhängigkeiten im Auge behalten und Hunderte Risikofaktoren in Tausenden Disruptionsszenarien innerhalb von Minuten durchspielen können? Wer sonst sollte über die Tausenden Vorlieferanten auch die soziale und ökologische Nachhaltigkeit des Liefernetzwerks überwache und sicherstellen? Wobei das eine dumme Frage ist.
Denn das kann selbst ein gut ausgebildeter Supply Chain Manager nicht mehr von Hand oder alleine. Das geht angesichts der Fülle der Daten und des extremen Zeitdrucks nur noch digitalisiert mit Smart Data und wissenschaftlichen Methoden. Leider ist es damit nicht weit her. Laut einer Umfrage des Digitalverbands Bitkom geben sich deutsche Unternehmen für ihre Digital Readiness selbst lediglich die Schulnote „befriedigend“. Dass das bei weitem nicht reicht, zeigten und zeigen Corona, Ukraine-Invasion und Gas-Embargo.
Eines der wenigen Vorbilder ist dabei eine Kooperation von Commerzbank und Deutscher Telekom. Beide entwickeln derzeit eine durchgängig automatisierte Lieferkette mit integrierten Finanzdienstleistungen. Dabei kommt all das zum Einsatz, was die Digitale Transformation ausmacht: Künstliche Intelligenz, IoT, Sensorik, Cloud, Smart Contracts und Blockchain. Damit kann ein Großteil der Warenströme und Dienstleistungen automatisiert und digital beschafft und abgewickelt werden, während begleitende Finanzdienstleistungen wie Working Capital-Optimierung, Lieferanten-Finanzierung und Risikoabsicherung tatsächlich parallel und stark automatisiert ablaufen. Die sechsmonatige Testphase in Kooperation mit einem Logistikdienstleister dauert noch an.
Schon vor Corona und Ukraine galt „Die Logistik“ als „Motor der Globalisierung“ im Sinne von: Schafft alles ran, was per Mausklick erhältlich ist. Diese Beschreibung hat im Zuge der anhaltenden Krisen eine geradezu mythische Übersteigerung erfahren: SCM ist das, was auch in der größten Katastrophe solide Sicherheit bietet.