Tempolimit und andere Grausamkeiten

Wie retten wir das Klima? Wie senken wir die Emissionen? Und mit „wir“ meine ich im Gegensatz zur COP27 nicht die dauerdiskutierenden Politiker, sondern uns Konsumenten, Autofahrer, Wohnungsheizer, Fleischesser, Retouren-Versender, Verpackungsmüll-Besteller, Online-Shopper, Eltern-Taxifahrer, Mit-gestelltem-Fenster-Dauerlüfter, Luxusweihnachtsbeleuchter, SUV-Fahrer, Lebensmittel-Wegwerfer, Bei-25-Grad-im-T-Shirt-im-Büro-Hocker … und so weiter. Es gibt Dutzende ganz konkreter Dinge, die  w i r  täglich tun könnten, um ganz konkret  u n s e r e  höchst persönlichen, ganz individuellen Emissionen zu reduzieren. Wenn wir es nur täten. Doch das verbindet uns mit vielen Politikern: Drüber reden ist leichter.

Auf diese Weise haben wir Weltbürger 2021 mit erstaunlichen 37,1 Milliarden Tonnen CO2 die Luft verpestet. 2022 werden wir diese Menge noch übertreffen. Schätzungen gehen davon aus, dass wir es bis 2050 auf 72,8 Mrd. Tonnen schaffen. Eine typische Statistik-Zahl: Beeindruckend, schockierend, sagt einem aber nichts – weil es eine Zahl ohne Konsequenzen ist. Steuert man diese im Sinne einer verantwortungsvollen Berichterstattung bei, fällt zum Beispiel auch der Expertenhinweis, dass bei so hohen Emissionen das Klima derart geschädigt sein könnte, dass auch hierzulande bis zu zwei Drittel der Ernten ausfallen können. Das sagt einem schon mehr, beispielsweise: Dann wird auch der gut verdienende Mittelschicht-Angehörige seinen SUV vor dem Tafelladen parken, aber nichts mehr bekommen, weil die Läden für die Ärmsten schon heute 40 Prozent mehr „Kunden“, aber 50 Prozent weniger Waren haben (der digitalen Warenwirtschaft im Handel sei Dank). Dann ist das Klima total kaputt.

Ist dann überhaupt noch was zu retten? Oder leben wir alle wieder in den Höhlen? Das heißt: Wie schrecklich ist dieses Schreckensszenario? Oder ganz im Gegenteil gefragt: Könnte sich das nicht auch so entwickeln wie die medialen und politischen Gaskrisen-Drohungen im August dieses Jahres, die sich Anfang November bereits bei fast randvollen Gasspeichern als im Sinne des Wortes Schreckgespenst herausstellten?

So wie früher jeder eine Meinung (aber keine Ahnung) hatte, hat heute gar mancher TV-Experte ein Szenario. Ohne zu wissen, wie Szenariotechnik funktioniert. Es gibt nämlich nie nur ein Szenario. Jedes denkbare Szenario bedingt fast schon logisch-automatisch ein Gegenszenario oder mindestens ein Alternativszenario. Jede Self-Fulfilling Prophecy könnte sich auch, in der Szenario-Zukunft, als Self-Denying Prophecy herausstellen. Das vergessen die Leute oft, die mit ihren Horrorszenarien Panik machen, weil sie Panik als Distinktionsgewinn betrachten. Das vergessen aber auch ihre Rezipienten, die sich damit in Panik versetzen lassen. Wobei wir ja noch „Glück“ haben (werden).

Denn der Klimaschock trifft vor allem Asien im Allgemeinen und im Besonderen Inselstaaten wie Vanuatu, Tonga oder die Salomonen. Die gehen unter. Wortwörtlich und zu großen Teilen. Wohin flüchten ihre Bewohner? In die Nachbarstaaten? Zu uns? Klimakrise macht Flüchtlingskrise. Es sei denn, wir treten auf die Bremse. Ebenfalls wörtlich zu nehmen.

Prompt hören wir den habituellen Aufschrei von ADAC und Autofahrer-Nation: Um Himmels willen – bloß kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen! Deutschlands heilige Kuh. Und wie die biologische Kuh macht auch diese viel Mist, also Abgase. Tempo 130 auf Autobahnen würde daher jährlich 1,9 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einsparen. Übrigens: Viele europäische Länder haben bereits ein Tempolimit auf ihren Autobahnen. Bei einem Limit auf 100 km/h würde das jährliche Einsparpotenzial sogar 5,4 Mio. Tonnen betragen. Bei 120 km/h wären es immerhin noch 2,6 Mio. Tonnen. Das entspräche einer Reduktion der Emissionen von PKW und leichten Nutzfahrzeugen auf Autobahnen von 6,6 Prozent. Das ist wenig, aber das ist nicht nichts. Das ist das Salami-Prinzip: Auch das Klima rettet keiner am Stück, sondern in Dutzenden kleinen „Scheibchen“. Was denken Sie jetzt?

Richtig: Keiner, der bei Verstand ist, muss darauf warten, dass eine wie auch immer koalierende Regierung ihm das per Gesetz vorschreibt. Jeder von uns kann das heute schon praktizieren; ab der nächsten AB-Auffahrt. Und wer jetzt wieder mit dem Aufschrei der Autofahrer-Nation kommt, dem sei gesagt: Der Audi-Vorstandsvorsitzende hat sich, quasi als Vorstandssprecher der Auto-Nation, unlängst ebenfalls für ein Tempolimit ausgesprochen. Ganz dem nationalen Trend folgend: Die Zahlen verändern sich. Infratest dimap hat jüngst ermittelt, dass 59 Prozent der Bundesbürger ein AB-Tempolimit befürworten. Das ist zwar die Mehrheit.

Doch wieso nur 59 Prozent? Ist den andern 41 Prozent das Klima egal? Ihre Kinder und Enkel? Wissen die mehr als wir? Vielleicht braucht es einfach nur mehr Zeit (die wir nicht haben). Denn 2019 lag der Prozentsatz der Tempolimit-Befürworter noch bei 44 Prozent. Irgendwann liegt er dann vielleicht bei 90 Prozent – wenn Sylt versunken ist und sich in Mittelhessen die kilometerlangen Sanddünen der neuen europäischen Sahara ausdehnen.

Anderes Thema, selbe Wirkung: autofreie Sonntage. Blieben an allen Sonntagen des Jahres die Straßen frei, könnte man 2,9 Milliarden Liter Kraftstoff einsparen. Das entspricht 5,6 Prozent des jährlichen deutschen Absatzes. Das Thema hatten wir schon in den 70er-Jahren zu Zeiten der Ölkrise und auch da war es nach dem ersten Aufschrei der Berufsempörten kein Problem. Oft ganz im Gegenteil: Die Leute trafen sich spontan zu Straßenfesten auf dem Asphalt. Italien, Belgien und Mexiko zum Beispiel halten regelmäßig autofreie Sonntage ab. Was die können, können wir auch. Wollen wir?

Und auch hier gilt: Niemand zwingt uns, darauf zu warten, dass uns irgendjemand das per Gesetz vorschreibt. Bestimmt gibt es schon jetzt Familien, die an bestimmten Sonntagen das Auto stehen lassen und „in Familie machen“ oder Ausflüge in die nähere Umgebung. Schön wäre, beim Thema „Klima“ auch mal von ihnen zu hören – und nicht nur von Leuten, die einen Breughel mit Püree bewerfen. Das aber ist die Kultur der Nation: Sensation vor Sache. Die Krise hinter der Klimakrise.

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