Wer hat Recht?

Die Medien oder die Wissenschaft? Diese Frage stellte sich in jüngster Vergangenheit vermehrt, intensiv, explosiv. Nicht nur die BILD brach plötzlich einen üblen Streit vom Zaun und prangerte wissenschaftliche Ergebnisse als „grob falsch“ an – was in der wissenschaftlichen Welt umgehend Amüsement bis Zorn auslöste: Seit wann ist das Blatt mit den bombastischen Schlagzeilen in den Rang eines A-Journals aufgestiegen? Seit wann kann der Boulevard die Qualität von wissenschaftlichen Studien beurteilen?

Spaß beiseite: Es ging nur grob oberflächlich um die Verwendung von eventuell ungeeigneten oder nicht ausreichenden statistischen Verfahren durch Prof. Christian Drosten. Das war eher ein Spiegelgefecht an der Oberfläche.

Worum es unterhalb der Oberfläche geht und was keiner so recht ansprechen will, ist eher folgendes: Wir haben eigentlich zwei Krisen. Eine von beiden hat jeder schon bemerkt. Die andere wütet zwar fast heftiger als die erste, jedoch immer noch ohne Diagnose, geschweige denn Therapie: Wir haben ein heftiges Kommunikationsproblem.

Ein Problem? Eher ein Dilemma: Die seriöse Wissenschaft weiß zwar im Kern am besten Bescheid, kann dieses Wissen jedoch nicht am besten kommunizieren. Die Medien können am besten kommunizieren, verfügen aber nicht über das Wissen und die Differenzierungsfähigkeit der Wissenschaftler. Beides zusammen – Fach- und Kommunikationskompetenz – wäre die perfekte Problemlösung, doch wie die Ballade von den beiden Königskindern weiß: Sie konnten zusammen nicht kommen. Das jedoch wäre bitter nötig.

Damit könnten gehäuft auftretende und in Krisenzeiten besonders und unnötig beunruhigende Kommunikationspannen vermieden werden. Beispiel: Am 23. März sagt der RKI-Präsident, dass die gegen Corona ergriffenen Maßnahmen wirken und dass der Trend hin zu einer flacheren Infektionskurve geht – und alle atmen auf. Was auch sonst? Das ist eine gute Nachricht, oder? Alles wird gut! Ja? Von wegen!

Denn genau zwei Tage später, am 25. März, sagt derselbe Wissenschaftler, dass Deutschland erst am Anfang der Krise stehe und: „Es ist völlig offen, wie sich diese Epidemie weiter entwickelt.“ Ja was denn nun? Erst Entwarnung geben und dann blitzartig vors Scheinbein treten.

Jeder geschulte Kommunikator würde im Rhetorik-Seminar beim Rollenspiel das Feedback geben: „Mein Lieber, Sie reden zickzack!“ Was jeder Wissenschaftler vehement bestreiten würde. Denn zum Zeitpunkt der beiden Meldungen waren tatsächlich beide Aussagen korrekt:

Es gab eben Hinweise in beide Richtungen: kurzfristig flachere Kurve und gleichzeitig langfristig ungewisser Verlauf.

Genau diesen erklärenden Satz sprach oder schrieb jedoch niemand – ein klares Kommunikationsversäumnis. Doch warum sollte man diesem Versäumnis allein dem Wissenschaftler anlasten?

Warum nicht auch den Medien? Oder uns? Sind Redaktionen und wir Zeitungsleser wirklich so unbelesen, dass sie und wir nicht zwei prima facie widersprüchliche Thesen unter einen Hut bringen könnten? Vor allem, wenn es dafür lediglich einen erklärenden Satz braucht, auf den man mit ein wenig logischem Denken auch ohne Bachelor in dialektischer Theorie kommen kann?

Natürlich hat kaum eine Redaktion Interesse daran. Skandale und vorgeblich „grob Falsches“ verkaufen nun eben mal mehr Auflage als Wahrheit und Fakten. Sind wir ZeitungsleserInnen wirklich so oberflächlich und sensationsgierig? Oder sind es nur die Redaktionen?

Kaum sagt ein Wissenschaftler etwas Missverständliches oder Unterredundantes (und darin sind viele Wissenschaftler wahre Meister), drängen die rezipierenden Medienvertreter nicht auf Klärung und Erklärung, sondern rufen den nächsten Skandal aus. Was wirtschaftlich nachvollziehbar ist: Skandale verkaufen Auflage, Klarheit nicht (ist das wirklich noch so?).

Wissenschaftler drücken sich gestelzt oder widersprüchlich aus, Medien klarifizieren nicht – bleibt wieder mal alles an uns ganz normalen Menschen hängen. In der akuten Corona-Krise wurde das zu meiner täglichen Übung – und viele aufgeklärte Menschen hielten es ebenso. Wir dachten bei der Lektüre des neuesten News Feeds regelmäßig: „Das hat er/sie jetzt zwar so gesagt, aber das kann er/sie so nicht gemeint haben. Was könnte er/sie denn wirklich gemeint haben?“ Und dann googelt man fünf Minuten und entschlüsselt die kryptische Botschaft.

Das wirklich Überraschende daran ist: Wissenschaft ist keine Ägyptologie. Keiner von uns braucht dafür ein Zusatzstudium. Wenn wieder ein Virenforscher oder jeder andere Wissenschaftler Kryptisches von sich gibt und prompt von den Medien verkürzt oder verfälscht wiedergegeben wird, müssen wir nicht im Unklaren bleiben. Fünf Minuten mit Google und wir sehen wenn nicht klar, so doch zumindest klarer als jeweils Sprecher und Medien. Genau das meinte Kant mit dem Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit: Information ist selbst im Informationszeitalter immer noch Hol-, nicht Bringschuld. Wer gut informiert sein möchte, muss, wird und möchte gefälligst selber dafür sorgen. Wer sollte es sonst für uns tun? Dereinst die Künstliche Intelligenz. Doch solange diese selber noch auf allfällige Enten hereinfällt, ist das noch Zukunftsmusik.

Natürlich würde es für den sogenannten Public Impact oder kurz die Allgemeinverständlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Artikulationsfähigkeit vieler Wissenschaftler von immensem  Vorteil sein, wenn sie ihre Ausdrucksweise klarer, widerspruchsfreier und vor allem zielgruppen-orientiert gestalten könnten. Oder wie Niels Bohr gesagt haben könnte: „Wer nur Virologie (oder jede andere Wissenschaft) kann, kann auch die nicht richtig.“ Man sollte darüber hinaus auch allgemeinverständlich und konsistent sprechen können.

Und natürlich würde möglicherweise die Krise der Print-Branche schneller überwunden werden, wenn viele Redaktionen nicht nur schwerpunktmäßig auf Skandale, Kritik, Sensationen, Besserwisserei und Katastrophenmeldungen aus wären.

Doch bis beide sich zu den Grundsätzen solider Kommunikation bekennen und diese auch praktizieren, ist es schön, dass die Oberhoheit über Fakten und Wahrheit immer noch bei uns liegt: Wir googeln, wir checken Fakten, wir trennen Spreu vom Weizen, Fake News von Tatsachen. Das macht uns Arbeit. Doch diese Arbeit lohnt sich. Die Wahrheit sollte es uns allemal wert sein.