Wo sind die Frauen?

Für eine Studie haben wir 5.000 Webseiten von kleinen und mittleren Transportunternehmen aufgerufen und genauer angeschaut und sind erschrocken: Es gibt fast keine Frauen in Geschäftsführungspositionen.

Bei 2.000 Unternehmen einer engeren Auswahl fanden wir lediglich 183 geschäftsführende Frauen, das sind 9,15 Prozent. Und selbst unter diesen nicht einmal zehn Prozent sind etliche gemeinschaftliche Geschäftsführungen: Herr und Frau Meier führen zusammen das Transportunternehmen. Das ist mehr als spärlich. Wie ist das im Vergleich?

Bei den Top100 der Logistikbranche ist die Frauenquote in der Geschäftsführung fast doppelt so hoch: 18,6 Prozent. Die großen Unternehmen werden deutlich häufiger von Frauen geführt als die kleinen und mittleren – der ansonsten verlässliche Mittelstandsvorteil ist nicht nur nicht vorhanden, sondern verkehrt sich ins Gegenteil. Das ist keine Bagatelle.

Denn die Logistikbranche ist immerhin der drittgrößte deutsche Wirtschaftsbereich mit rund 3,3 Millionen Beschäftigten. Und trotz dieser hohen Relevanz als Arbeitgeber schöpft die Branche offensichtlich das volle Potenzial aller Arbeitnehmer nicht aus. In anderen Worten: Die Logistik ist im 21. Jahrhundert noch immer eine Männerdomäne, der es offensichtlich nicht gelingt, weibliche Führungskräfte in akzeptablem Ausmaß gezielt zu fördern und nach ganz oben zu bringen. Warum nicht?

Laut Bundesvereinigung Logistik BVL liegt es nicht an der Qualifikation – es gibt genügend qualifizierte Frauen. Es liege vielmehr daran, dass viele Frauen sich nicht besonders von der in der Logistik vielerorts herrschenden Firmenkultur angesprochen fühlten. Und es fehle der Branche an weiblichen Vorbildern.

Es ist leider immer noch so, dass die meisten Frauen mit den Stichworten „Transport“ und „Logistik“ spontan schlecht gelaunte Brummi-Fahrer assoziieren, die fünf Tage am Stück fern der Heimat und der Familie den Truck chauffieren. Oder sie denken an verschwitzte Gesellen an der Rampe, die grob fluchend schwere Paletten stemmen. Dass das heute eher ein Witz denn Realität ist, hat sich noch nicht weit genug herumgesprochen. Die moderne Familie lässt es schlicht nicht mehr zu, dass Papi sich wochenlang vom Familienleben absentiert. Und wer auch nur eine Folge der Kabel-1-Soap „Trucker Babes“ gesehen hat, hat auch gesehen, wie die LKW-Fahrerinnen dort mit modernstem Gerät leichthändig an der Rampe hantieren. Dass jemand in der Logistik wegen schwerer und gefährlicher Arbeit abends mit Kreuzschmerzen nach Hause geht, löst an den Rampen zumindest der westlichen Welt beträchtliche Erheiterung aus. Aber wenn das keine mitkriegt (außer den Trucker Babes …). Von daher kann man der erwähnten Serie nur wünschen, dass sie schleunigst in den Berufsorientierungsunterricht der Schulen integriert wird. Denn wenn man sieht, welchen Spaß die Damen hinterm Lenkrad bei der Arbeit haben, ergibt sich doch gleich ein ganz anderes Berufsbild. Wobei wir noch den Konjunktiv bemühen sollten. Denn bislang ist es noch lange nicht so. Warum nicht?

Eine wissenschaftlich interessante Erklärung liefert die Theorie der sozialen Identität. Sie sagt, grob vereinfacht: Wer ich bin, also meine Identität und wie ich mich verhalte, hängt auch von der Gruppe ab, zu der ich mich zugehörig fühle. Wenn ich mit Kollegen im Meeting sitze, definiere ich mich und verhalte ich mich sicher anders als wenn ich mit meinen Kindern spiele: Zugehörigkeit definiert Identität und umgekehrt. Wir wissen und handeln unbewusst danach, wie man sich in einer bestimmten Gruppe verhält. Und wir sind stolz darauf, zu einer Gruppe zu gehören, die zu unserer Identität passt. Warum also sollten die meisten Frauen stolz auf die Zugehörigkeit zu einer Männergruppe sein?

Die Theorie der sozialen Identität wurde auch experimentell erforscht und ergab: Mit der Identifikation einer Geschlechtskategorie (Ich bin eine Frau/ein Mann) nimmt automatisch auch die Geschlechtsvoreingenommenheit zu. Wissenschaftler fanden heraus, dass diese bereits bei Kleinkindern vorhanden ist: Wenn Jungs und Mädchen zwischen der Zugehörigkeit zu einer Jungs- oder Mädchengruppe wählen können, wählen die Jungs eher die Jungsgruppe und die Mädchen eher die Mädchengruppe. Dazu hätte es keines Experiments bedurft. Das wissen wir auch aus eigener Anschauung: Das ist eine klare Geschlechtspräferenz. Menschen werten offensichtlich das eigene Geschlecht unterbewusst und tendenziell positiver: schlauer, freundlicher, sympathischer. Wenn Kleinkinder das machen, nennen wir das genetisch-biologisch bedingt oder ein „soziales Konstrukt“. Wenn Erwachsene das ebenso unbewusst tun, nennen wir es Sexismus.

Ganz gleich, wie wir es nennen: Es hat Auswirkungen. Ein kurzer Blick auf die einflussreichsten Organe der US-Gesellschaft zum Beispiel ergibt ein unverhältnismäßiges Übergewicht weißer Männer, das die Leitmedien mit strukturellem Sexismus und die Theorie der sozialen Identität mit der unterbewussten Geschlechtspräferenz erklärt: Männer vertrauen unterbewusst eher Männern – bei Frauen ist es analog. Wobei die Analogie in Branchen wie der Logistik keine Rolle spielt: Es gibt schlicht zu wenige Branchenfrauen für eine solche Analogie.

Ergo: Wir brauchen mehr Girl Power in der Logistik. Und nicht nur, um uns gegen den Sexismus-Vorwurf zu wehren. Sondern auch, weil die Logistik vor disruptiven Veränderungen steht: Digitalisierung, Fahrer- und Fachkräftemangel, Diesel-Abschaffung, Umstellung auf komplett neue Technologien wie grünen Wasserstoff. Diese Disruptionen unter weitgehendem Ausschluss der Arbeits- und Führungskraft von Frauen meistern zu wollen, ist geradezu fahrlässig riskant, wenn nicht zum Scheitern verurteilt. Vor allem, wenn wir „typisch weibliche Talente“ betrachten wie Flexibilität, hohe Service-Orientierung und Pflichterfüllung, konsequente Zielumsetzung sowie ihre besonderen Fähigkeiten beim Entscheidungs- und Konfliktmanagement. Solche Skills sind entscheidend fürs Change Management.

Einmal ganz von der Diversitätsrendite abgesehen. Studien belegen, dass sich eine hohe Diversität positiv auf den Unternehmenserfolg auswirkt. Natürlich bedeutet höhere Diversität automatisch auch höhere Heterogenität und damit ein höheres Friktions- und Konfliktpotenzial: Homogene Gruppen sind einfacher zu führen – aber erweisen sich auch als leistungsschwächer. Die Frage ist letztendlich: Wollen wir es bequem haben? Oder rentabler?

Unternehmen im obersten Quartil der Diversität haben nämlich eine um 21 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie rentabler als weniger diverse Unternehmen sind und eine 27 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit für eine bessere Wertschöpfung. Das sind keine Zahlen vom grünen Tisch. Diese Zahlen wurden bei realen Unternehmen erhoben. Es gibt also schon Unternehmen, die den Frauenvorteil nutzen und davon profitieren. Was logisch ist und kaufmännisch vernünftig.

Der Wandel, der uns droht, ist schlicht zu groß, um ihn ohne Frauen meistern zu können. Wir brauchen das ganze Potenzial des Arbeitsmarktes. Frauen bringen Vorteile. Nutzen wir sie.