Das sagen wir uns alle, ständig, mit schlechtem Gewissen: fünf Kilo abnehmen, mehr Sport, mehr Zeit mit der Familie, Klima retten, Sklaven der Lieferketten befreien, endlich die Seminar-, Bachelor- oder Masterarbeit mit Nachdruck angehen oder endlich ausreichend für die nächste Klausur büffeln – tun wir’s? Seien wir ehrlich:
Nein. Nicht in der Regel.
Warum nicht? Warum zum Beispiel kaufen wir immer noch zu Millionen stinkerte Klimakiller-SUV’s anstatt wie bisher lediglich zu Zehntausenden E-Autos? Auto ist doch wohl Auto: Hauptsache, man kommt damit von A nach B.
Eben nicht, und die Soziologen wissen das praktisch seit Erfindung der Soziologie. Platt gesagt: Ein Auto war noch nie (nur) ein Auto. Nur Exoten und Exzentriker kaufen ein Auto zur Fortbewegung. Der überragende Grund für Konsum ist nicht die Nutzung von Produkten, sondern: Identitätsstiftung. Wir sind, was wir kaufen. Wer keine hat, kauft sich eine. Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung? Das ist der Euphemismus der Technokraten. Tatsächlich leben, nein, existieren wir in der Epoche der Identitätslosigkeit. Wir konsumieren, um überhaupt j e m a n d zu sein. Sonst gäbe es keine Sportwagen, Luxus-Uhren, Edel-Klamotten …
An diesen Fassaden-Artikeln wird die Malaise der modernen Hülle Mensch lediglich überzogen offensichtlich. Bei jedem anderen Einkauf schwingt die verzweifelte, wenn auch meist unbewusste Gier nach Identität ebenfalls stark mit. Sonst würde schlicht nur das zum Leben Nötigste gekauft – und die Wirtschaft bräche schneller zusammen als bei jeder Naturkatastrophe.
Wer keine (oder zu wenig) hat, verschafft sich eine Identität in der Boutique oder beim Autohaus. Das ist individuelle Identitätsstiftung. Es gibt auch eine kollektive, nämlich die Gruppenidentität. Der Mensch ist mehrheitlich ein Herdentier und definiert sich selbst oft, was an sich schon leicht irre ist, nicht so sehr über seine inneren Werte, Ziele, Errungenschaften und Tugenden, also kurz gesagt über seine charakterliche Persönlichkeit, sondern über seine pauschale und uniforme Gruppenzugehörigkeit. Dieses von Psychologen so genannte Affiliationsbedürfnis ist hardwired, genetisch: Wer im Neandertal nicht zur Sippe gehörte, flog aus der Höhle und wurde umgehend von der Wildnis draußen verspeist. Weil dieses strangulative Urbedürfnis so universell ist, verstehen auch alle Menschen auf der ganzen Welt Gags wie jenen von den Pinguinen aus Madagaskar, die einen ganzen Animationsfilm praktisch um das existenzielle Bedürfnis einer der vier Pinguine drehten, um nur endlich, am Ende des Films nach überstandenen Abenteuern das erlösende Urteil seiner Peer Group zu hören:
„You are a meaningful and valued member of this team!”
Dann endlich kann der vierte Pinguin selig schlafen, weil er erst jetzt weiß: Endlich bin ich wer! Endlich gehöre auch ich dazu! Vorher nicht. Vorher war er was? Ein Pinguin? Nein. Nichts. Identitätslos.
Konsum ist nie nur Konsum, sondern immer auch Identitätsgewinnung und -sicherung. Daher „Keeping up with the Joneses“: Wenn der Nachbar einen neuen Wagen oder eine neue Wohnzimmer-Garnitur anschafft und wir nicht, setzt die Identitätskrise ein. Nicht, weil der Nachbar uns aussticht, wie Küchentisch-Psychologen landläufig vermuten. Der Nachbar ist nicht so sehr Benchmark als Gatekeeper: Wenn wir nicht sind ( = konsumieren) wie er, gehören wir nicht mehr dazu – und das limbische System läuft Amok, bis es im Auto- oder Möbelhaus intravenös erstversorgt wird. Das ist hoch neurotisch?
Das stimmt nicht. Als der erste Neandertaler das Gebiss des Bären nicht in den Hausmüll tat, sondern sich einen Reißzahn um den Hals hängte und alle Kumpels enthusiastisch nachzogen, war das äquivalent zum heutigen Erwerb der Mitgliedschaft im FC Bayern: Mir san mir! Wer dazu gehört, ist wer! Einmal ganz davon abgesehen, dass irrsinniger, megalomaner, weltverpestender Konsum auch gesellschaftliche Funktionen erfüllt: Wohlstand und Wachstum, Arbeitsplätze und Einkommen. Nur weil wir, forsch gesagt, zu 75 Prozent unnützes, ja schädliches, aber eben identitätsstiftendes Zeugs kaufen, geht es uns so gut (und Klima, Umwelt, Luft, Sklaven und Enkeln so schlecht). Konsum ist die tragende Säule unserer Gesellschaft – und nicht, wie wir in der Schule gelernt haben, Demokratie und Freiheit. Das lernen wir zwar rätselhafterweise immer noch in der Schule und lesen es in den Leitartikeln der Leitmedien – doch danach gehen wir erst mal shoppen, damit der Identitätsblutzuckerspiegel nicht zu sehr absinkt. Identität braucht Bestätigung, also Konsum (die anderen 27 Mittel der Identitätsbestätigung sind aus der Mode gekommen).
Nun könnte man sagen: Was soll’s? Shop till you drop! Kauf‘ bis der Arzt kommt! Das funktioniert leider nur, bis alle Ressourcen alle sind. Deshalb leben wir im Zeitalter der Transformation. Der Laie meint zwar, das beziehe sich auf Digitalisierung und Klimawandel. Doch im tiefsten Grunde bezieht sich das auf den Konsum. Wenn wir ihn und damit uns nicht transformieren, shoppen wir unsere Enkel buchstäblich zu Tode. Und wie muss unser Konsum transformiert werden?
Verantwortlich.
Bislang konsumieren wir mehrheitlich und überwiegend zwar identitätsstiftend, jedoch verantwortungslos. Uns jucken die Sklaven nicht, die für unsere Handys bluten. Wir beklagen zwar den ausgefallenen Sommer und die schockierenden Klimakapriolen. Doch wer hat deshalb seine Wochenkilometerleistung im Auto auch nur um zehn Prozent reduziert? Hand hoch? Keine Meldungen? Dabei könnten wir so viel tun.
Wir könnten im Unverpackt-Laden einkaufen. Noch nie gemacht? Warum nicht? Weil wir Rechnen, Lesen und Schreiben an der Schule gelernt haben, doch nicht, wie wir unser Leben ändern. Change Management – kein Schulfach, kein Thema, keine Sensibilität. Die Folgen sind teils hanebüchen; O-Ton übern Gartenzaun:
„Ich kauf jetzt wirklich alles Obst im Unverpackt-Laden!“
„Hm, ist eigentlich eine gute Idee.“
„Den Laden gibt’s schon lange. Warum hast du noch nicht …?“
„Ach, die ganze Fahrerei!“
„Weißt du überhaupt, wo der Laden ist?“
„Äh, nein, wo denn?“
Daran scheiterte, wie unsere Kinder und Enkel in 20, 30 Jahren sagen werden, damals die Rettung der Erde: „Unsere Eltern hielten die Klimarettung für eine Idee, anstatt für drei Dutzend konkrete Maßnahmen, von denen sie viel zu wenige kannten und umsetzten.“ Transformation ist nicht das, was wir denken oder sagen, sondern das, was wir tun. Aber wenn wir nicht mal auf die Idee kommen, erst mal herauszufinden, wo der Laden ist, weil wir „Umsetzung“ als Schulfach nie gelernt haben … Wir leben im Zeitalter des Abstraktivismus:
„Wir sollten weniger Fleisch essen!“ – „Gute Idee. An welchem Wochentag esst ihr denn konkret dauerhaft fleischlos?“
„Wir könnten auch Strom sparen!“ – „Du meinst konkret, das Licht ausmachen, wenn ihr aus einem Zimmer geht – wie oft hast du deine Kinder und deinen Partner gestern Abend daran erinnert? Oder nach ihnen den Schalter gedrückt?“
„Es werden auch immer noch zu viele Lebensmittel weggeworfen!“ – „Stimmt – wir verfüttern das alte Brot immer den Wildschweinen im Wildgehege.“ – „Wieviel weniger Brötchen und Brot müsstet ihr denn einkaufen, damit nichts mehr übrig bleibt?“
Nur was konkret gemacht wird, wird gemacht.
Wenn das so einfach ist, warum konkretisieren wir dann nicht wie die Weltmeister und Weltretter? Weil uns wiederum unsere unreflektierte Identität in die Quere kommt: „So sind wir nicht! Wir sind die, bei denen es immer reichlich gibt! Gott behüte, dass übers Wochenende ein Kind auch nur eine Brotkrume zu wenig bekommen könnte!“ So sind wir; solange wir uns mit Konsum identifizieren und das Kind nicht erst mal fragen: „Was ist dir lieber? Heute drei Brötchen zu viel? Oder auch noch in zehn Jahren was zu essen?“
Wir konsumieren nicht bewusst. Wir konsumieren uns bewusstlos.
Es gibt glücklicherweise immer mehr Menschen, die keine verantwortungslosen Nassauer mehr sein wollen. Sie ändern sich. Wie? Radikal zum Beispiel via Bewusstseinsänderung:
Ich bin n i c h t , was ich kaufe! Ich bin, wer ich bin!
Etwas weniger grundsätzlich, dafür ebenso erfolgreich: mit Musterunterbrechern. Menschliches Verhalten ist zu 90 Prozent die Summe von Routinen. Eine Bekannte sagt: „Beim Fleischer nehme ich meine Liste – und lasse noch an der Theke drei Posten weg, an guten Tagen vier.“ Summa cum laude.
Schwer in Mode (vor allem in den USA) sind aktuell die Micro Habits, die Mini-Gewohnheiten. „Ab sofort kaufen wir nur noch nachhaltig und fair!“ ist automatisch zum Scheitern verurteilt, weil die Umkehr einer „großen“ und daher zu großen Gewohnheit in neun von zehn Fällen vorhersehbar misslingt. Aber einen einzigen Posten (Bananen, Honig, Schokolade …) beim nächsten Einkauf mit Fairtrade-Siegel kaufen? Das klappt nach drei, vier Anläufen fast ebenso garantiert. Das wissen oder ahnen wir. Warum tun wir’s so selten?
Wieder schießt unsere Identität quer, meist mit dem Aiwanger-Argument: „Ich bin doch keiner, der sich von andern sagen lässt, was gut für mich ist!“ Auch Autonomie ist ein grundlegendes Bedürfnis – und kein Fehler. Der Fehler liegt darin, dass niemand den Menschen mit übersteigertem Autonomiestreben didaktisch sauber zeigt, wie sie diesen identitätsstiftenden Wert mit anderen Werten abgleichen, zum Beispiel mit Vernunft, Gemeinsinn oder Nachhaltigkeit.
Selbst ein Fein-Tuning unseres Bewusstseins erzielt erstaunliche Erfolge. Ein Bekannter zum Beispiel übt kurz vor dem Griff ins Supermarkt-Regal inzwischen Sokratisches Fragen: Muss das sein? Und muss es ausgerechnet diese Marke sein? Gibt es nichts Alternatives, Faires, Nachhaltiges? Was hält mich davon ab? Besteht dieser Hinderungsgrund bei Tageslicht besehen? Oder ist das kindischer Trotz? Niemand kann sich das einen Einkauf lang fragen, ohne sein Verhalten zu verändern – und von Stolz belohnt zu werden. Früher hätte man das Gewissen genannt. Das ist gut.
Noch besser wäre, wenn wir unsere systemischen, strukturellen Verhaltenspathologien abstellen könnten. Ist Ihnen doch sicher auch schon aufgefallen: Wann passiert was? Meist erst dann, wenn was passiert ist, das Kind im Brunnen liegt. Dann tobt das Volk und die Politik reagiert. Dieses Verhalten hat uns die Schöpfung bislang durchgehen lassen. Doch jede Reaktion kommt zu spät, wenn zum Beispiel das Klima unwiederbringlich gekippt ist. Wenn der Patient tot ist, hilft auch die teuerste OP nicht mehr. Wir müssen als Menschheit vom reaktiven zum pro-aktiven Handeln kommen. Das ist sozusagen unsere Master-Arbeit. Ob wir sie jemals abgeben?
Liebe Frau Hartmann,
Sie schreiben mir mit jedem Ihrer Blog-Einträge so aus dem Herzen, vielen Dank!
Jedes Mal wird leider klarer, dass der Pegelstand der Suppe, in der wir heutigen Neandertaler schwimmen, für viele noch viel zu niedrig ist, um zum Blick über den Tellerrand zu gelangen und um dann festzustellen, dass sie sie leider ganz und gar selbst auslöffeln müssen. Stattdessen kaufen sie sich bunte Badeanzüge und plantschen munter weiter vor sich hin. Die, die Köpfe ein wenig weiter aus der Brühe erheben, werden wie im Schwimmbad gerne mal untergetunkt.
Aber sie tauchen wieder auf, zum Glück, und werden mehr. Wie zum Beispiel hier in diesem Blog. Ich freue mich über die nächsten Einträge, wie wäre es mal mit einem ganzen Artikel zur nervigsten Erfindung der Menschheit, die jetzt wieder Hochkonjunktur hat: Laubbläser! Ich bin mir sicher, dass Ihnen dazu auch viel mit geschärfter Feder einfällt.
LG
Hah! In Ihnen steckt selber ein Poet, mindestens jedoch ein feiner Texter. Die „Suppe, in der der Neandertaler schwimmt“? Einfach köstlich, das Bild unsere Zeit. Danke auch, lieber Stefan, für die Anregung zu den Heulbojen des Herbstes, auch Laubbläser genannt. Das Thema juckt unseren Rechercheuren auf Anhieb in den Fingern. Mal sehen, ob und was sie dazu im Laubberg ausgraben.
Fantastischer Artikel, Frau Hartmann!
Neben den zwei anderen großen Hebeln in Sachen Nachhaltigkeit – Politik und Wirtschaft – ist das persönliche Handeln und Verhalten von uns allen der dritte große Hebel.
Es könnte so einfach sein! Warum es das nicht ist, bringen Sie auf den Punkt. Aber auch, warum es das doch ist. Und warum so dringend notwendig. Danke dafür!
Lieber Daniel, das bringen Sie auf den Punkt: Es könnte so einfach sein! Aber wir machen es einfach noch nicht. So sind wir Menschen nun mal – aber so bleiben wir hoffentlich nicht! Jede Stimme, die sich erhebt, zählt – auch Ihre: Danke! Evi Hartmann
Ich nehme an, statistisch relevante Anteile der Bevölkerung benutzen auch Verzicht als identitätsstiftendes Merkmal … nicht ausschließlich und überall, sondern jede gemäß ihren Mikroentscheidungen, wahrscheinlich nicht allzu selten auch bei Statussymbolen. Wenn ich mich richtig erinnere, gilt soziologisch betrachtet bei bestimmten Bevölkerungsgruppen Konsumverzicht als Zugehörigkeitsmerkmal („Sinus-Milieus“). Selber gehöre ich, zum Beispiel, zu Fleisch-, Fernsehen- und Luxustaschenverweigerinnen, um von Diamanten, Autos oder Haarfarbe gar nicht zu schweigen ;-) Und ich habe bis heute nicht verstanden, warum Frauen, die sichtbar aufs Essen verzichten, so viel beliebter sind als ich :-)
Ich nehme an, dass es da draußen noch genug andere Menschen gibt, denen es irgendwie ähnlich geht. Ich nehme außerdem an, dass man Verzicht beliebter machen könnte und dass der Mensch tatsächlich häufig genug erlebt, dass weniger mehr (Identität) ist, nur müssten wir das alle lernen – wäre auch ein Gegenprozess zu dem jahrzehntelangen Bestreben während der Industrialisierung, allen möglichen Leuten alles Mögliche zu verkaufen. M.E. hat uns die Industrie aus Umsatz- und/oder Gewinngründen erzählt, dass wir uns die Identität artikelweise dazukaufen können, ein Narrativ in die entgegengesetzte Richtung (Nichtkaufen, um die Identität kennenzulernen und pur zu halten) könnte auch erfolgreich werden, vorausgesetzt, es knieen sich genug Erzähler rein.
Und ich habe bis heute nicht verstanden, warum Frauen, die sichtbar aufs Essen verzichten, so viel beliebter sind als ich :-)
Schmunzeln musste ich jedoch gerade, als ich beim Lesen feststellte, dass derselbe Text 2x hintereinander vorkommt. Das ist wirklich Luxus ;-), vor allem für Schnellleserinnen, die 2x lesen müssen, um alles Geschriebene zu erfassen.
Liebe Alcessa, jetzt mal ehrlich: Ihr Kommentar ist eines eigenen Blogs würdig! Wir kichern hier immer noch vergnügt in uns hinein. „Fleisch-, Fernsehen- und Luxustaschenverweigerinnen“? Man/frau liest und grinst erheitert; einfach gelungen formuliert. Kleine Anmerkung meinerseits: Frauen, die ostentativ auf Nahrung verzichten, sind nur in gewissen Kreisen beliebter als andere. Ich wünsche Ihrem Kommentar sehr viele Leserinnen und Leser, denn inhaltlich stimme ich Ihnen komplett zu. Möglicherweise gibt es bereits eine nicht unerhebliche Bevölkerungsgruppe, die sich ihre Identität nicht via Konsum erkauft – man hört halt nur so selten von uns. Auch in diesem Sinne: Danke! Und danke für den Hinweis auf den Kopierfehler – der Blog ist inzwischen nicht mehr doppelt vorhanden. Evi Hartmann