Schmidt irrt

Gottlieb Daimler, Erfinder des Autos – kennt jeder. Was kaum einer weiß: Er baute auch den ersten LKW. Das war 1896. Daimler war Visionär. Er sah, dass die Motorisierung nicht nur ein Vergnügen zum privaten Gebrauch war. Der PKW war immerhin, in Form der „motorisierten Kutsche“, bereits ganze zehn Jahre zuvor erfunden worden. Daimler jedoch hatte die Vision einer motorisierten Logistik.

Vom PKW zum LKW – die Schlussfolgerung erscheint uns heute banal. Wie wenig sie das ist, wusste ein anderer Visionär. Henry Ford sagte: „Wenn ich den Kunden gefragt hätte, was er möchte, hätte er gesagt: Schnellere Pferde!“ Ford hatte wie Daimler jedoch eine Vision. Wie heftig dieses Erfolgselement kulturell unterschätzt wird, zeigt auch, wie wenig und wie wenig nachdrücklich einem deutschen Kanzler widersprochen wurde, als er meinte: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Hätte Daimler Schmidts Rat befolgt, wäre der Paketbote noch heute beritten unterwegs. Tatsächlich erscheint die Übertragung einer alten Lösung auf ein neues Problem ex post so „banal“ wie sie ex ante von vielen als „Spinnerei“ abgetan wird. Was schlimm genug ist. Schlimmer noch: Wir „spinnen“ viel zu wenig.

Eingang in die Lehrbücher fand der Grippesirup, der sich in Tests als hoch wirksam herausstellte, aber nie in den Verkauf gelangen sollte, weil die Probanden nach der Einnahme einschliefen und damit zur Gefahr für Straßenverkehr und gefahrgeneigte Arbeitsplätze wurden: „Völlig ungeeignet!“ lautete das Testurteil. Bis ein heller Kopf auf die Idee kam: „Dann sollen die Leute den Saft eben vor dem Schlafengehen einnehmen!“ Heute macht das Mittel Millionen: Wick MediNait. Kinder praktizieren diesen gedanklichen Quertransfer von alten Ideen auf neue Anwendungen ständig.

Sie klauen Mutter den Kochlöffel und steuern damit ihr Raumschiff. Sie nehmen die gute Sonntagshose zum Fußballspielen raus. Und was machen wir? Wir requirieren den Kochlöffel und holen das Kind vom Spielen rein. Bis das Kind seinen Schulabschluss hat, hat es Laterales Denken verlernt. Schlimmer: Weil diese Art des Erfolgsdenkens nicht nur stigmatisiert wird, sondern die Stigmatisierung verdrängt und die Verdrängung tabuiert wird, bemerkt das erfolgsamputierte Kind dieser Gesellschaft die Amputation seiner geistigen Fähigkeiten noch nicht einmal. Niemand ist so blind wie der Blinde, der glaubt, alle Farben seien schwarz.

Am deutlichsten wird die kulturelle Abwertung dieser Erfolgskomponente angesichts der Bezeichnung, welche die zeitgenössische Gesellschaft für Genies wie Daimler und Ford übrig hat: „Quertreiber!“ Das ist die Verballhornung der korrekten Übersetzung von „Lateralem Denken“: Querdenkertum. In vielen Unternehmen strenger geahndet als jeder Verstoß gegen die Compliance. Warum wurden die Genies dieser Welt nicht Opfer dieses Denk- und Erfolgsverbots?

Lewis Carroll, ein anderes Genie, wusste es – und sagte es. Öffentlich. Er musste nicht befürchten, dass allzu viele Leute bemerken würden, wie er ein Erfolgsgeheimnis verriet. Er lässt seine Alice im Wunderland sagen: „Ich versuche schon vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge zu denken.“ Was für ein Rezept! Das Rezept für kulturelle Desensibilisierung und Erfolgsrekonditionierung ist kein Hexenwerk, keine Rocket Science und keine Hirnchirurgie. Es ist rein und allein Trainingssache. Wir können uns wieder angewöhnen, was uns eine obsessiv-kompulsive Kulturindoktrination abgewöhnt hat. Noch vor dem Frühstück! Heute schon quergedacht?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert