Tieffliegende Busse

Wir sind mobil. Aber sowas von. Zum Beispiel: dank Fernbussen. Sie brechen Umsatzrekorde. Weil sie das preisgünstigste (kostengünstigste?) Transportmittel für Fernverbindungen sind. Leider auch das Langsamste.

Lassen wir die Stauproblematik beiseite und betrachten rein die theoretische minimale Reisedauer: So ein Fernbus darf auf Autobahnen gerade mal 100 km/h fahren. Für LKW sind 80 erlaubt. Wenn ein Trucker also nicht scharf auf die Tachonadel schaut, ist es für einen Fernbus fast unmöglich, (legal) einen LKW zu überholen ohne gefühlt unendliches Elefantenduell.

Deshalb fordert die Bustouristik seit längerer Zeit: Setzt das Limit für den Bus auf 120 hoch! Ein von einem TV-Magazin befragter LKW-Fahrer meinte, dass sowohl der LKW als auch der Bus praktisch in der Just-in-Time-Delivery tätig seien – und bei Just-in-Time sei der Leistungsdruck enorm! Jede Minute zählt! Wenn ich mit dem Bus fahre, bin ich für jede Minute froh, die ich früher am Ziel bin. Das Tempolimit ist jetzt wie alt? Über 30 Jahre? Klar veraltet. Es wurde immerhin noch in der Prä-Fernbus-Ära verabschiedet. Also weg damit.

Ich komme jetzt ungern mit Evidenz und Empirie. Doch dass die Sicherheit nicht zunimmt, wenn die Geschwindigkeit es tut, lässt sich zumindest nicht a priori von der Hand weisen. Wie wäre es deshalb mit einem Feld- oder Modellversuch? Ähnlich wie bei den Supertrucks und den fahrerlosen LKW? Da sträuben sich nicht nur mir die Nackenhaare. Wenn der Supertruck im Raureif in die Böschung rutschen würde, hofft man, dass der Fahrer keinen Schaden nimmt. Bei 50 Fernreisenden, Tempo 120 und demselben Raureif fällt einem diese Hoffnung ungleich schwerer angesichts des 50-fach höheren potenziellen Schadenumfangs. Hoffnung ist kein Experimentalparameter – fragen Sie jeden Disponenten. Doch bestimmt haben Reiseveranstalter und Bushersteller schon eine Lösung für das Speed Limit in der Schublade. Warum liegt sie noch nicht in Form einer Gesetzesvorlage vor?

Hier treffen wir auf eine interessante Parallelität: Das, was Personen- und Güterlogistik, Versorgungsnetze und Supply Chains gestaltet, ist selber eine Supply Chain. Viele Elemente vom Bushersteller über den Reiseunternehmer, seine Kaufleute und Supply Chain Manager bis hin zur Legislativen und zur öffentlichen Verwaltung determinieren, was in der Supply Chain „Fernbusreise“ passiert. Dass diese komplexe Service-Versorgungskette so beeindruckende Dienstleistungen wie den neu geschaffenen Fernbus liefert, erleben wir jeden Tag. Dass dieses Ergebnis einer umfassenden Private-Public-Supply-Chain nicht selbstverständlich ist, erleben wir dieser Tage. Zum Beispiel in Flint, im US-Bundesstaat Michigan.

Dort hat die lokale Administration einem dem Just-in-Time-Stress vergleichbaren Druck nachgegeben: Sie ist pleite. Also koppelte man sich vom (teuren) Detroiter Wassernetz ab und zapfte den Flint River an. Seither leiden hunderte Einwohner unter Bleivergiftungen mit den typischen Symptomen von Haarausfall über Hautausschlägen bis hin zu Nervenschädigungen. Die betroffenen Kinder werden ihr Leben lang an den Schäden leiden: Blei ist reinstes Nervengift. Das aggressivere Flusswasser löste es aus den Leitungen. Nicht vergleichbar?

Gutes Argument – es trifft auch auf den Just-in-Time-Vergleich zu. Sowohl der LKW als auch der Bus mögen dieselbe tempo-sensible Delivery leisten. Doch der Mensch ist keine Euro-Palette. Die traurige Flint-Parabel zeigt, um einen Spruch von BWL-Grandseigneur Mintzberg zu variieren: Der Mensch verbringt sein ganzes Leben in Supply Chains – leider versteht er sie oft nicht besonders gut. Wenn ein administratives, also dem öffentlichen Wohl verpflichtetes Supply Chain-Element plötzlich das Kosten- und Renditekalkül seiner kaufmännischen, also dem privaten Gewinnerzielungswohl verpflichteten Supply Chain-Nachbarn übernimmt – dann stärkt das die Versorgungskette nicht. Es implodiert sie.

Das ist ein Thema, um das sich das Supply Chain Management, ganz zu schweigen von der Logistikpraxis, bislang nur wenig gekümmert hat: Rollenselbst- und -fremdverständnis inklusive Rollenverteilung und Wahrung eines homöostatischen Gleichgewichts innerhalb einer Supply Chain. VWL-Gleichgewichtstheorie trifft BWL-Unternehmensführung. Das war jetzt etwas zu wissenschaftlich?

Dann ganz konkret: Natürlich sind 30 Jahre alte Gesetze und ebenso alte Speed Limits „Feinde des Fortschritts“! Jedenfalls des Kurzfristigen. Langfristig und vor allem nachhaltig betrachtet zeigen jedoch alle einschlägigen Studien zur Langlebigkeit von Unternehmen und Geschäftsmodellen: Konservativ lebt länger. Und sicherer. Die Fernreisenden mögen es danken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert