Mit der Bullen-Peitsche

Die moderne Logistik ist global und vernetzt, flexibel und agil – aber wenn ich diesen Sommer während der größten Hitze zum Getränkemarkt fahre, jede Wette: Mein Lieblingsmineralwasser ist wie in einigen Vorjahren mit hoher Wahrscheinlichkeit während einer der Hitzewellen vergriffen. Trotz moderner Logistik. Wissen die nicht, dass der Sommer kommt? Es liegt nicht am Sommer.

Es liegt an der Bullenpeitsche, Englisch: Bullwhip Effect. Nehmen wir an, ich stehe vor dem leeren Regal. Vor fünf Wochen war es schon mal so heiß: Damals kein Problem beim Einzelhändler, weil der Großhändler massig Bestand vorgehalten hatte – den er blöderweise nicht ganz loswurde. Also trat er vor der zweiten Hitzewelle etwas auf die Bestellbremse. Mit dem Hintergedanken: „Nachbestellt ist schnell!“ Leider kommt die Peitsche dazwischen.

Denn leider haben viele Großhändler so gedacht. Und als alle „schnell nachbestellen“ wollen, knallt die Peitsche am Anfang der Supply Chain, weil die einzelnen kleinen Effekte sich kumuliert zu einem Riesenknaller aufsummieren: Der Abfüller kommt nicht mehr nach, weil sein Flaschenlieferant nicht mehr nachkommt. Die Kunden sind sauer, weil sie auf dem Trockenen sitzen und Händlern, Lieferanten und Abfüllern entgeht Umsatz. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste.

Schlimmer ist, dass jeder in der Supply Chain das Problem schwankender Bestellmengen und den Bullwhip-Effekt kennt und deshalb viele Partner in der Lieferkette Sicherheitsbestände und Zusatzkapazitäten horten, die ungeheuer viel kosten – und im Normalfall nicht gebraucht werden. Könnte man das Problem anders als mit kapitalbindenden Reserven lösen, wäre das günstiger – für alle.

Noch komplizierter wird der Peitscheneffekt dadurch, dass es in ein und derselben Lieferkette Partner gibt, die nicht liefern können, während andere schlecht ausgelastet sind – und drei Wochen später dreht sich das Ganze um! Die Lieferkette erlebt also wiederkehrende Lieferengpässe bei gleichzeitig eigentlich unnötigen Kosten. Die doppelte Strafe, sozusagen. Und was machen die einzelnen Partner in der Supply Chain?

Sie betreiben weiter (lokale) Optimierung. Man optimiert beispielsweise seine Bestellmenge: Mein Einzelhändler um die Ecke bräuchte von meinem Lieblingssprudel eigentlich wöchentlich lediglich zwei Paletten. Bei fünfen jedoch bekommt er Rabatt. Also bestellt er diese Woche fünf und nächste Woche nichts und erzeugt damit eine Nachfrageverzerrung innerhalb der Lieferkette, die sich dann ebenfalls über alle Kettenglieder bis zur Quelle peitschenartig, also nicht-linear, aufschaukelt. Bei kurzen Lieferketten wie der Getränkeindustrie ist das schon lästig. Bei Lieferketten mit mehreren Hundert Stufen und Tausenden Lieferanten wie zum Beispiel in der Automobilindustrie schaukelt sich das schnell zum Alptraum hoch. Der Supply Chain Manager wird zum Master of Desaster. Behaupte noch einer, Supply Chain Manager sei ein lockerer Job …

Man sollte meinen, dass das moderne Supply Chain Management den Peitscheneffekt auf ein Minimum beschränken könnte. Das könnte es auch, wenn der Datenaustausch, die Zielsysteme, die Forecasts, Kapazitäts-, Losgrößen- und Liquiditätsplanungen vertikal vollkommen integriert wären. Open Book entlang der Supply Chain? So modern sind wir dann doch nicht. Häufig nicht. Noch nicht. Eigentlich ein schönes Ziel fürs Supply Chain Management. Der nächste Sommer kommt bestimmt.

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