Muss das sein? Jetzt hängen uns auch noch die Dänen ab. In Kopenhagen hat neulich „Wefood“ eröffnet. Ein Supermarkt, der ausschließlich abgelaufene oder ausrangierte Lebensmittel von anderen Geschäften anbietet, im Schnitt zur Hälfte des Frischpreises. Es ist der Erste in Dänemark und womöglich der Erste weltweit. Bei der Eröffnung standen die Leute Schlange; in der Schlange auch die dänische Prinzessin Marie.
Gut (oder weniger gut) 2,6 Mio. Tonnen Lebensmittel werden im deutschen Groß- und Einzelhandel jährlich weggeworfen. Das sind 7% aller ausgelieferten Waren, wie eine Studie der Stiftung WWF zeigt. 2,4 Millionen Tonnen davon wären vermeidbar. Denn weggeworfen werden Lebensmittel nicht, weil sie schlechtgeworden wären, sondern weil sie nicht mehr mit den Erwartungen der Kunden an Verfügbarkeit, „Frische“, Optik und Textur der Ware übereinstimmen. Auf gut deutsch: Fleck? Und weg! Wir Konsumenten haben einen Hau … Und jetzt also: Wefood.
Schon beeindruckend, wie elastisch die dänische Food Supply Chain ist: Hat noch Platz und Toleranz für diese Nische. Warum können wir nicht so flexibel sein? Beeindruckend auch, wie moralisch und ökonomisch neutral so eine Supply Chain ist: Es kommt nicht auf die Supply Chain an. Sondern darauf, was Manager draus macht. Nicht die Supply Chain, sondern der Supply Chain Manager entscheidet. Ach würde er es doch tun!
Aber auch der Konsument: Wie kann er die schon etwas fleckigen Bananen im Karton liegen lassen, wenn er genau weiß, dass sie dann in die Tonne kommen (einmal abgesehen von den Tafelladen-Spenden), deren Inhalt in der 3. Welt ganze Dörfer retten könnte? Die Mainstream-Welt ist ein Sündenpfuhl, aber in den Ritzen des Konsumbetons blüht die Best Practice, die Ausnahme, die moralische Nachhaltigkeit. Wer immer nur Tagesschau guckt, kriegt davon nichts mit.
Denn dort werden immer nur Seuchen, Katastrophen und Skandale propagiert. Wo aber die Unmoral blüht, um mit Hölderlin zu sprechen, wächst das Rettende auch; Best Practices, Sustainable Supply Chains, Wefood. Wir sollten solche Bright Spots feiern wie einen EM-Sieg. Denn worauf sich die Aufmerksamkeit richtet, das wächst im Leben. Vielleicht liegt es daran, dass uns bei der Verhinderung der Lebensmittelvernichtung erst die Franzosen (per Gesetz) und jetzt die Dänen den Rang ablaufen. Der Deutsche kapriziert sich auf den Missstand, während die andern die Ausnahme leben.
Wenn man so mutig ist, Lenin zu zitieren, dann stürmt der deutsche Revolutionär den Bahnhof erst, nachdem er eine Bahnsteigkarte gekauft hat. Was hat es mit dem deutschen Charakter auf sich, dass wir nach Paris und Kopenhagen schauen müssen, wenn es um solche Bright Spots geht? Vielleicht stellen wir schlicht die falschen Fragen.
Wir fragen: Warum tut der Gesetzgeber nichts? Oder: Was kann ich als einzelner Konsument schon ausrichten – warum unternehmen die Konzerne nichts? Oder der Supply Manager: Warum macht unser Vorstand nichts? Wir heißen zwar das Volk der Dichter und Denker, aber leider nicht das der Philosophen. Denn die erste, zentrale, sozusagen disziplinstiftende und für viele einzig valide philosophische Frage lautet seit den Anfängen der Zeit schlicht und einfach:
Was kann ich selbst tun?
Bei Wefood einkaufen. Oder selber einen Laden aufmachen. Oder das fleckige Gemüse kaufen – und den Fleck ganz einfach rausschneiden. Selber nichts wegwerfen, bloß weil es einen Fleck hat. Nicht so viel Brot einkaufen, dass zwangsläufig ein Drittel davon hart werden muss. Oder von der japanischen Kultur lernen, in der schon Kindergartenkinder die 7 Arten von Muda (Verschwendung) lernen und wie man sie vermeidet. Oder beim Total Productive Management, der fundiertesten Management-Methode zur Vermeidung von Verschwendung, haltlos abkupfern. Jede Managerin, jeder Manager sollte sich zumindest mit zentralen TPM-Prinzipien auskennen (und ihrer Adaption auf die eigene Supply Chain). Kennen Sie?
Liebe Frau Hartmann,
ich bin über managementbuch.de auf Ihr Buch „Wie viele Sklaven halten Sie?“ gestoßen und darüber auf Ihren Blog. Ich möchte Ihnen hier einfach danken! Sie haben mir mit dem „alten Dänen“ aus der Seele gesprochen und eine Lawine bei mir losgetreten. Es gibt so viele Blogs und Empfehlungen im Internet, wie man z. B. alte Lebensmittel noch verwerten kann, darunter „zu gut für die Tonne“. Die App auf dem Smartphone (das man ja eigentlich nicht besitzen sollte) liefert gute Ideen. Sollte man verpflichtend in jeden Haushalt einführen :)
Liebe Barbara! Merken Sie es? Es werden immer mehr. Immer mehr wie Sie, die mitdenken und mit anpacken. Das macht Mut und gute Laune – und hilft der Welt. Und: Danke für den App-Tipp!
Hallo Frau Hartmann,
das grundlegende Geschäftsmodell ist nicht wirklich neu und wird im Web schon erfolgreich praktiziert z.B. http://www.approvedfood.co.uk/ (Jahresumsatz gem. Presse 5,52 Mio. EUR). Theoretisch kann auch in Deutschland das Angebot in Anspruch genommen werden, praktisch erscheint dies jedoch fraglich aufgrund des Versands und dem damit einhergehenden Schadstoffausstoß.
Ohne einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft wird sich das Problem nicht lösen und dieser erscheint mir in weiter Ferne. Neben einer stetigen Sensibilisierung der Gesellschaft wäre daher mein Ansatz:
– sammeln dieser Lebensmittel
– umwandeln in organisches Eiweiß (z.B. Fliegenlarven)
– Herstellung von Futtermittel aus dem Eiweiß
– Substitution des Fischmehls durch o.g. Futtermittel in der Tierzucht
Zugegeben der „Wirkungsgrad“ wäre schlechter aber die gesellschaftliche Akzeptanz um ein vielfaches höher.
Dank und Gruß
Gelungene Formulierung – spricht mir aus dem Herzen: Natürlich ist der grundlegende gesellschaftliche Wandel in weiter Ferne! Deshalb haben wir doch das Desaster – mit exzellenten Ausnahmen wie in deiner/Ihrer Person. Ehrlich gesagt: Wegen Kommentaren wie deinem/Ihrem lohnt sich die ganze Mühe für den Blog. Wie anders soll man Leute kennenlernen, die ethisch integer sind?