Die Lead-Time-Lücke

Die Logistik ist eine Welt, in der es im Grunde nur zwei Probleme gibt. Erstens die ständig schwankende Kundennachfrage. Und zweitens möchte kein Kunde lange auf seine Sendung warten – Sie nicht und ich nicht. Wir sind zeitsensibel (kein Witz, so heißt das Fachwort). Lieferzeit ist das Stichwort zum Problem.

Genauer: die „Lieferzeit-Lücke“. Das ist die Lücke zwischen jener Zeit, die eine Supply Chain benötigt, um die Einzelteile für ein Produkt zu beschaffen, das Produkt herzustellen und zu liefern und jener Zeit, die der Kunde bereit ist, auf das Produkt zu warten. Naturgemäß ist die erste Zeit meist größer als die zweite – die Differenz ergibt die sogenannte Lead-Time Gap. Beispiel Äpfel.

Die „Produktion“ eines Apfels dauert Monate. Doch wenn ich im Supermarkt stehe, erwarte ich eine (Kunden)Lieferzeit von Null. Die Lead-Time-Lücke ist also Monate groß, macht aber außerhalb von globalen Missernten keine größeren Probleme. Das ist die Ausnahme. Die Regel ist das Problem. Unter anderem weil sich Kundenwünsche ständig ändern.

Gerade möchten zum Beispiel viele Menschen diese neuen, unglaublichen Kühlschränke, die vollautomatisch via Internet beim nächsten Online-Supermarkt „einkaufen gehen“, wenn Butter, Eier oder Milch knapp werden. Nie wieder „nix mehr im Kühlschrank“ oder „Milch ist aus – wer hat die letzte weggetrunken?!“ Wer sowas toll findet, erwartet die Lieferung eines solchen Kühlschranks für Vollvergessliche und Termingehetzte binnen, sagen wir, zwei Wochen. So schnell könnte der Hersteller liefern. Wenn es um den reinen Transport ginge. Aber viele dieser Kühlschränke sind noch nicht lieferbar.

Sie müssen zuerst entworfen, konstruiert, die Einzelteile eingekauft, zusammengeschraubt und ausgefahren werden. Das dauert, sagen wir, 6 Monate (mindestens). 6 Monate minus zwei Wochen ergibt eine Lead-Time Gap von 5,5 Monaten. Und jeder Konkurrent, der schneller ist, der seine Lücke kleingekriegt hat, nimmt dem langsameren Unternehmen viel Business weg. Wie vermeidet man das?

Indem man die Lücke verkleinert. Indem man schneller wird. Nicht nur das Unternehmen, sondern die komplette Supply Chain. Alles, was die Lieferkette schneller, effizienter, vorausschauender und prognostisch genauer macht, hilft weiter – wenn man es bezahlen kann. Ein Unternehmen reduziert zum Beispiel seine Lead-Time, wenn es mehr Auslieferungsläger baut, damit die Ware schneller beim Kunden ist. Aber jedes Lager kostet Millionen. Es kostet auch, wenn man seine (bestellten) Ersatzteile nicht langsam verschifft (große Lücke), sondern mit Luftfracht ausliefert. Wie Porsche.

Was weniger kostet und ebenfalls schneller macht sind: Vereinfachung und Standarisierung von Arbeitsprozessen, Vorprodukten und Standards, Postponement (https://blogs.fau.de/weltbewegend/2016/06/27/porsche-postponement/), Modularisierung, Fehlerbehebung und Vermeidung von Verschwendung (Stichwort 7 Muda). Hier gilt das erste bayrische Grundprinzip der Effizienz: Effizient kann man gar nie sein – nur effizienter. Denn: „A bisserl was geht immer.“ Man kann jeden Tag noch ein wenig effizienter werden. Wenn man PDD hat, wie die Amerikaner sagen: Pigheaded Discipline and Determination.

Früher galt: Das bessere Produkt gewinnt. Heute: Die schnellere Supply Chain gewinnt. Irgendwann sind die Lieferketten so schnell, dass ich online mit der Maus meine Bestellung abschicke, danach zur Wohnungstür gehe und meine Lieferung in Empfang nehme, die eben eingetroffen ist. Wissen Sie, wie das bald schon der Fall sein könnte? Nicht an der Wohnungstür, sondern im Wohnzimmer.

Wenn dort mein 3D-Drucker steht. Dann klicke ich die Maus und drucke aus, was immer ich jetzt gerade möchte oder brauche (und die Software bzw. Technologie hergibt). Null Kundenlieferzeit. No Lead-Time Gap. Keine Lücke, kein Problem. Mit der Musik geht das heute schon so. Früher musste man noch zum Plattenladen fahren und wieder zurück. Viel Zeit – nach heutigem Standard. Heute klickt man die Musik aus dem Internet runter. No Lead-Time.

Ob das für alle Produkte so gut ist, ist eine andere Frage. Jeder von uns weiß, was mit Kindern passiert, denen man jeden Wunsch sofort und stets erfüllt. Man „verdirbt“ sie. Außerdem fällt bei Null-Lieferzeit die ganze schöne Vorfreude in der Zeit des Wartens weg. Und wie verhalten sich wohl Menschen, die via lückenlosem Konsum gelernt haben, dass jeder Wunsch immer und ohne Wartezeit erfüllt werden kann und erfüllt werden muss? Möchte man sowas als Beziehungspartner haben, als Vorgesetzten, Eltern oder als Teenager?