Pendeln Sie?

Ich wette mal: Ja. Und ich brauche dafür nicht einmal eine Münze zu werfen, denn die Chancen auf Gewinn der Wette stehen deutlich besser als fifty-fifty. Nach der aktuellen Statistik pendeln inzwischen 60 Prozent der deutschen Bevölkerung (2016) zur Arbeit. Um die Jahrtausendwende waren es noch 53%. Lustig ist das nicht.

Denn Pendeln stresst und ist damit ein medizinisch gesicherter Risikofaktor für unsere Gesundheit. Außerdem produziert es Staus, was wiederum noch mehr stresst. Nicht nur die Pendler, die im Stau stehen, sondern auch die Stadtbewohner, die rund um den Dauerlärm in der Miefwolke wohnen. Das könnten wir uns alles sparen, wenn nur endlich der öffentliche Personennahverkehr ordentlich ausgebaut würde? Sollen Bund, Länder und Gemeinden halt ein paar Milliönchen in die Hand nehmen! Das könnte funktionieren, wenn die Welt so bliebe, wie sie ist. Tut sie aber nicht. Sie produziert Trends.

Zum Beispiel das autonome Fahren. Wenn autonome Autos sich vernetzen, können sie a) Staus umfahren und/oder b) die morgendlichen und abendlichen Abfahrtzeiten ihrer Passagiere so koordinieren, dass erst gar kein Stau entsteht. Es bräuchte dann auch kaum mehr Parkplätze in der Stadt, wenn die Autonomautos  nach Absetzen ihrer Passagiere selbsttätig vor die Stadt fahren, um dort zu parken. Oder um die Angestellten abzuholen, die erst später im Büro sein müssen – ein schönes Beispiel für Shareconomy. Die Politik könnte zur Not oder als Anreiz auch die Städte dicht machen und nur noch Autos reinlassen, die 80 Prozent der Tageszeit rollen und nicht parken. Das wäre dann die Shareconomy auf Verordnung. Das wäre nie zu machen? Weil viel zu drakonisch?

Ein krasser Verstoß gegen alle demokratischen Prinzipien? Auf diese würden wir in kommenden Jahren möglicherweise gerne einmal verzichten, wenn die Alternative darin besteht, wie Millionen Chinesen in den Mega-Citys nur noch mit Atemschutzmaske in den Innenstädten unterwegs sein zu können. Deshalb wäre es besser, wenn wir Bürger selber auf die Idee kommen könnten und deutlich mehr E-Autos kaufen würden. Die Kommunen würden solarbetriebene Busse einsetzen, die Menschen würden ihre E-Autos teilen. Ja; hätte, könnte, würde …

Der Witz ist: Viele Kommunen bauen derzeit tatsächlich den öffentlichen Personennahverkehr aus und die Nutzerzahlen steigen. Doch gleichzeitig nimmt auch der PKW-Verkehr in den Städten zu. Denn der Drang vieler Menschen nach individueller Mobilität ist derzeit noch stärker als ihre Rücksichtnahme auf Umwelt, Luft und Stadtbewohner. Platt gefragt: Wer setzt sich schon gern in einen rumpelnden, ruckelnden, überfüllten Bus, wenn er mit dem eigenen Auto fahren kann? Nur ein Mensch mit überragendem Umweltbewusstsein, Kontaktfreudigkeit und Rücksichtnahme für Stadtbewohner. Oder einer, der andere Statusobjekte pflegt als das Auto. Solange solche Menschen noch in der Minderheit sind, bleiben die Innenstädte verstopft. Am Boden.

In der Luft ist noch jede Menge Platz. Diesen nutzt die sogenannte Aero-Mobilität. Businessleute zischen mit umgeschnalltem Jet-Pack um die Bürohochhäuser? Heli-Busse pendeln Shopper zwischen Mall und Park&Ride hin und her?  Das mag noch Science Fiction sein, doch in New York und anderen Metropolen hat inzwischen jeder größere Bürowolkenkratzer sein eigenes Heli Pad, von dem aus ManagerInnen starten, weil keine Führungskraft, die etwas auf sich hält und es sich leisten kann, wegen eines halbstündigen Meetings eine Stunde im New Yorker Stau stehen möchte.

Angesichts dieser verwirrenden Vielfalt von Trends ist die aktuelle Verkehrspolitik in vielen Städte versucht, mit kurzfristigen Maßnahmen – hier 2 km Straßenausbau und dort eine verkehrsberuhigte Zone – kurzfristig Entlastung zu schaffen. Das ist verständlich, denn ein langfristig deutlich besserer Komplettausbau der urbanen Infrastruktur verschlingt Millionen, dauert Jahre und ist auf Jahre unumkehrbar – wie der seit Jahren auf sich warten lassende Ausbau der Stammstrecken in München, Wiesbaden, Mainz und anderen Metropolen zeigt. Dass man da als Verkehrsplaner lieber zu kleinen Sofortmaßnahmen greift, ist verständlich. 

Wenn man sich dagegen auf eine langfristige Strategie festlegt, könnte man dabei leicht auch eine erwischen, die nicht die allerbeste ist – niemand kann in die Zukunft schauen und absehen, ob sich bestimmte Trends durchsetzen. Doch eine langfristige Strategie ist immer noch besser als von Tag zu Tag zu denken, reaktiv zu entscheiden anstatt strategisch und ad hoc, statt langfristig. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen Situationen schaffen, unter denen wir dann alle leiden. Wie lange es dauert, bis die Missstände bereinigt werden können. Dass Staus sich schneller aufbauen als Technologie und Verkehrsplanung hinterherkommen. Und wie wenig wir dazu in der Lage sind, das Übel an der Wurzel zu packen.

Gäbe es nämlich keine Pendler mehr, gäbe es auch kein Pendler-Problem mehr. Man könnte doch einfach genügend erschwingliche Wohnungen in den Städten bauen. Verrückterweise ist das – und nicht der Jet-Pack – die größere Utopie.