Schätze der Stadt

Was haben Sie heute schon weggeworfen? Jede(r) von uns wirft täglich fast zwei Kilo Müll weg. Urban Mining (wörtlich: Schürfen in der Stadt) sagt: Dein Müll ist mein Schatz! Und nicht nur unser Müll.

Urban Mining macht aus allem etwas, das früher weggeworfen wurde. Zum Beispiel aus abbruchreifen Häusern, die früher einfach mit der Abrissbirne platt gemacht und auf die Deponie verfrachtet wurden. Mit Urban Mining werden deren wiederverwendbare Materialen wiederverwendet: Beton, Stahl, Glas, auch Kupfer aus Stromleitungen, Eisen. Wäre doch schade, wenn das alles auf dem Müll landet. Und vor allem: ineffizient, sorglos und wenig nachhaltig.

Denn auf deutschen Müllkippen schlummert mehr Eisen als das ganze Land in einem Jahr benötigt. Wir müssten kein neues Eisenerz schürfen und zu Eisen verarbeiten (lassen), wenn wir unseren Eisenmüll recyceln würden. Wenn wir nicht nur Eisen, sondern auch andere urbane Rohstoffe als solche wahrnehmen, erfassen, sammeln und verwerten würden, könnten wir uns auch unabhängig(er) machen von allerlei Importen. In Zeiten von drohenden oder bereits tobenden internationalen Zoll- und Handelskriegen ist das eine Überlegung, die von restriktiven oder strangulativen Abhängigkeiten befreit.

Experten schätzen, dass derzeit weltweit rund 400 Millionen Tonnen Kupfer im aktiven Gebrauch sind. In jedem Handy, jeder Windkraftanlage, jeder Elektroinstallation in Wohnungen, Häusern und Gebäuden, in Wasserleitungen, Schaltschränken und elektrischen Haushaltsgeräten. Die Rohstoff-Reserven der Welt dagegen belaufen sich auf geschätzt 790 Millionen Tonnen: Sie könnten noch eine ganze Weile länger halten, wenn wir nicht ständig neues Kupfererz schürfen, sondern mehr von den „gebrauchten“ 400 Millionen wiederverwerten würden. Unser Müll ist immerhin fast so ergiebig wie die natürlichen Vorkommen. Und irgendwann sind die natürlichen Vorkommen ja auch erschöpft. Oder immer schwieriger zu schürfen. Wozu schwierig weit unter der Erdoberfläche nach natürlichen Lagerstätten graben, wenn Millionen Tonnen Rohstoffe bereits auf der Erdoberfläche in sogenannten anthropogenen Lagerstätten (vom Menschen geschaffen) herumliegen? Unsere Städte sind voll davon: Urban Mining.

Wir haben es uns angewöhnt, allerlei Produkte am Ende ihrer Nutzung als Müll zu betrachten. Das sind sie definitiv nicht. Sie sind Sekundärrohstoffe, Rohstofflieferanten. Wenn, falls und insoweit wir sie als solche wahrnehmen und behandeln. Jeder, der seinen Müll trennt und im kommunalen Wertstoffhof in die jeweiligen Container wirft, tut das zum Beispiel bereits. Was ich heute wegwerfe, kann morgen schon etwas Neues sein. Dabei ist Urban Mining mehr als bloßes Mülltrennen und Recyceln.

Wenn ich heute ein Handy kaufe oder ein Haus baue, dann sind diese in Monaten und Jahrzehnten nicht mehr zu gebrauchen. Urban Mining bedeutet auch, dass wir als Gesellschaft uns schon heute Gedanken darüber machen: Wie „schürfe“ ich die in Handy und Haus vorhandenen Rohstoffe am Tag X? Gerade am Beispiel von Smartphones und Handys zeigt sich, dass wir das Konzept von Urban Mining, so simpel es erscheinen mag, vielleicht kognitiv verstehen, aber noch lange nicht vollziehen: Jetzt, in diesem Augenblick gammelt die unvorstellbare Menge von rund 124 Millionen alter Handys ungebraucht in deutschen Schubladen herum. Allein in Deutschland! Niemand (abgesehen von kleinen und verdienstvollen Initiativen) hat sich bei deren Verkauf und Kauf Gedanken darüber gemacht, wie man sie am Ende ihrer Nutzung einer sinnvollen Verwendung zuführen kann (ich würde dezidierten Widerspruch an dieser Stelle enthusiastisch begrüßen). Hier von einem riesigen offenen und etwas peinlichen Potenzial unserer modernen Gesellschaft zu reden, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts.

Aus Sicht von Urban Mining sitzen wir auf Gold – und merken und nutzen es (noch) nicht. Im Durchschnitt sitzen wir grob auf so vielen genutzten Rohstoffen wie die natürlichen Bestände noch hergeben: Ein unermesslicher, aber leider auch weitgehend ungenutzter Reichtum. Wir sollten diese Reichtümer nutzen. Wie die Oma sagte: Wir werfen nix weg! Alles ist noch zu was zu gebrauchen.

Vor allem, wenn wir bedenken, wie viele natürlichen Rohstoffe unter umweltschädlichen und menschenfeindlichen Bedingungen gewonnen werden, sollten wir Urban Mining mit aller Entschlossenheit vorantreiben. Kein Sklavenkind muss auf dem afrikanischen Kontinent in die Minen kriechen, wenn wir die benötigen Metalle aus alten Gebäuden und Geräten rückgewinnen. Urban Mining ist so nachhaltig wie es nur geht.

Ist das nicht eine tolle Perspektive? Wir sitzen auf riesigen, ungenutzten Potenzialen. Potenziale für jede Menge Startups, neue Firmen, neue Branchen und Geschäftsmodelle, die ungeheuer nachhaltig sind. Wir würden die Umwelt dabei auch noch auf andere Weise schonen: Viele Rohstoffe sind tausende von Kilometern unterwegs bis sie verarbeitet sind. Dagegen könnte Urban Mining zum Beispiel den Bauschutt eines Abrisses zwei Stadtviertel weiter wiederaufbereiten und vier Stadtviertel weiter neu verbauen: mit minimalen Transportwegen und minimaler Umweltbelastung durch Abgase.

„Urban Mining funktioniert wie Hausmülltrennung im Großen“ schreibt die Deutsche Welle online. So gesehen leben wir als Menschheit in einem großen Welten-Haus, in dem die ganze Menschheitsfamilie hoffentlich recht bald zum Entschluss kommt: Wir werfen nichts mehr weg!