Wenn wir online einkaufen, können wir danach den Händler bewerten. Fahren wir in Urlaub oder gehen essen, bewerten wir Hotel und Restaurant. Das sorgt für Transparenz im Markt? Seien wir ehrlich: Es gibt uns auch ein Gefühl der Macht, das wir vor der Erfindung des Internets nicht kannten. Diese Bewertungen kennt jedes Kind. Dass die, die wir bewerten, jetzt den Spieß umdrehen, ist weniger bekannt. Denn auch wir werden heimlich bewertet.
Wenn wir irgendwo im Netz etwas kaufen, erfahren wir es nicht, wenn wir vom Verkäufer oder Händler bewertet werden. Wir erfahren auch nicht, nach welchen Kriterien er uns benotet. Wir erfahren es erst, wenn wir „durchfallen“.
Wenn wir zum Beispiel in einem Online-Shop etwas bestellen – und der Shop beliefert uns einfach nicht. Nicht, weil wir vorausgegangene Sendungen nicht bezahlt hätten. Wir haben alles bezahlt! Sondern weil wir zu viel von dem Bestellten zurückgeschickt haben. Wobei „zu viel“ der Händler definiert und uns nicht sagt, wieviel zu viel ist. Oder wir rufen per App ein „Taxi“ und das Taxi kommt nicht, weil unser Account gesperrt wurde. Uber macht das seit neuestem in Neuseeland und Australien so.
Uber lässt nicht nur die Passagiere ihre Fahrer bewerten, sondern auch umgekehrt. Auf einer Skala von 1 bis 5, wobei ein exzellenter Kunde eine 5 bekommt und ein ganz schlechter Passagier eine 1. Ab einem Wert von 4,0 werden Sie nicht mehr abgeholt und gefahren. Sie landen auf der schwarzen Liste und werden stehengelassen. Wie Uber auf die Bewertung kommt, wird nicht genau verraten.
Reicht es für meinen Ausschluss vom Fahrdienst schon, dass ich mal mit drei guten Freundinnen nach dem Shopping mit einem Dutzend großer Einkaufstüten das Uber-Fahrzeug vollgestopft habe? War das schon zu viel? Oder hat der Fahrer das sogar als lustig und unterhaltsam gewertet? Wir wissen es nicht.
An der (Hoch)Schule von LehrerInnen benotet zu werden, ist nicht wirklich amüsant, aber wenigstens größtenteils nachvollziehbar und in gewisser Weise auch nötig und nützlich. Beim „Taxi“-Fahren oder Online-Shopping heimlich benotet zu werden, ist dagegen etwas ganz anderes. Wir werden beim Einkaufen benotet? Wow. Da werden ganze Bevölkerungsgruppen von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen und wir wissen nicht, wie und warum. Natürlich haben Unternehmen und Händler ein Recht, „schlechte Kunden“ nicht mehr zu beliefern. Aber wer bestimmt, wann ein Kunde schlecht geworden ist? Verderben Kunden wie Fisch an der Sonne? Wobei sich viele notengebende Unternehmen der direktiven Brisanz ihres Ausschlusses durchaus bewusst sind.
Uber zum Beispiel bietet „schlechtgewordenen“ Kunden an, eine Schulung zu machen, damit sie nach einem Sündenfall sich rehabilitieren und wieder höher eingestuft werden können. Das erinnert an die MPU, die Medizinisch-Psychologische Untersuchung nach Führerscheinentzug. Da muss der Verkehrssünder auch erst in die Schulung, damit er wieder fahren darf. Der Unterschied: Bei der MPU verhängt das „Nachsitzen“ der Staat. Bei Uber und anderen Anbietern ist es ein Privatunternehmen, das seine eigenen Kunden zum Nachsitzen schickt. Das gab es noch nie.
Nun könnte man sagen: Auf Uber und andere Oberlehrer kann ich notfalls auch verzichten. Doch das ist zu kurz gesprungen. Die chinesische Regierung hat etwas weiter gedacht: Noten für Bürger, auch Social Scoring genannt. Im Rahmen eines Social Credit Systems bekommt jeder Bürger, jede Bürgerin spätestens ab 2020 von der Regierung Noten. Wer zum Beispiel bei Rot über die Ampel geht und erwischt wird, kriegt Minuspunkte. Wer an derselben Ampel einem älteren Mitbürger über die Straße hilft, kassiert Pluspunkte. Wer per Saldo ins Minus rutscht, wird bestraft.
Seine oder ihre Internet-Geschwindigkeit wird beispielsweise gedrosselt. Er oder sie dürfen bestimmte Urlaubsorte nicht mehr anfliegen. Die Liste der Sanktionen gegen unbequeme Bürger, Unangepasste oder – um an Heinrich Mann anzulehnen – schlechte Untertanen ist lang. Kann bei uns nicht passieren? Da wir in einer Demokratie leben?
Das tun wir – und trotzdem bewerten und benoten private Händler und Hersteller uns, ihre Kunden. Was, wenn meine Kinder nicht auf die private Schule ihrer Wahl gehen dürfen, weil ihre Mutter einen zu niedrigen Social Score aufweist? Was, wenn Personalleiter künftig BewerberInnen nach Social Score bewerten und einstellen oder ausschließen? Das wäre effizient: Man könnte sich zeitraubende und teure Bewerbungsgespräche sparen und mit ihnen die Personalkosten für jene Personaler, die sie heute noch führen. Klingt gruselig? Na und!
Das Digitale lässt sich nicht aufhalten. Aus den USA werden bereits Justiz-Irrtümer gemeldet, bei denen eine (billige) Gesichtserkennungssoftware nachweislich die Gesichter verwechselt und Unschuldige eingesperrt hat. Gott steh‘ uns bei, wenn das Social Scoring sich weiter verbreitet: Wir laufen alle nur noch wie die Roboter-Zombies durch die Gegend und verstellen uns wie die Weltmeister, damit uns unter dem Auge von Big Brother bloß kein score-beeinträchtigendes Malheur passiert. Der digitale Zensor sieht alles, entscheidet alles, sanktioniert alles – und ist so manipulierbar wie jeder menschliche Totalitär.
Denn sobald ich weiß, dass ich den Uber-Fahrer bewerte und der Uber-Fahrer mich bewertet, wird taktisches Verhalten geradezu provoziert: Die Beteiligten sprechen sich ab und tricksen Big Brother aus. Ich verrate zum Beispiel dem Uber-Fahrer, dass ich ihn spitzenmäßig bewerte, wenn er mich im Gegenzug auch gut bewertet. Das ist eine verständliche und menschliche Anpassungsreaktion, die das Social Scoring System leider oder glücklicherweise komplett unterminiert.
Wissen Sie übrigens, wie jene Unternehmen, die uns bewerten, ihre Schulungen für gescheiterte KundInnen unter anderem nennen? Kein Scherz: „Kurze erzieherische Maßnahme“. Das ist doch mal was! Nachdem uns Eltern, Lehrer und Ausbilder erzogen haben, stehen jetzt auch noch Zehntausende Wirtschaftsunternehmen vor der Haustür Schlange, die uns erziehen wollen. Die machen das. Die wollen das. Die Frage ist: Wollen wir das?