Wer ist dafür verantwortlich?

Es war wieder einmal eine schlimme Schlagzeile: In Brasilien bricht der Damm einer Eisenerz-Mine. Die entfesselte Sturzflut aus Wasser und Schlamm tötet vermutlich 300 Menschen. Wer ist dafür verantwortlich?

Einfache Frage, einfache Antwort: Natürlich jene, die Mängel verursacht, „übersehen“ oder nicht gemeldet haben. Sonst niemand? Was ist mit jenen, die das Eisenerz kaufen? Und jenen, die das verarbeitete Eisenerz zu Karosserie- und anderen Teilen weiterverarbeiten? Tragen sie keine Verantwortung? Sind die fein raus? Weil es sie nichts angeht, was ganz vorne in der Wertschöpfungskette, sozusagen an der Quelle der Wertschöpfung passiert?

Aus dem Handgelenk und aus unserem Bauchgefühl heraus würden wir sagen: Natürlich sind alle mitverantwortlich, die damit etwas zu tun haben! Es gibt eine Mitverantwortung. Lassen wir mal die Gesetzeslage beiseite: Eine moralische Mitverantwortung gibt es auf jeden Fall. Wo kämen wir hin, wenn alle „Nach mir die Sintflut!“ denken würden.

Das Thema wird gerade heftig von der Politik angesichts der Zustände in der Paketbranche diskutiert; Stichwort Nachunternehmerhaftung. Ein Online-Warenhaus beauftragt ein Transportunternehmen, dieses beauftragt ein Nachunternehmen, welches wiederum selbst ein Nachunternehmen beauftragt und auch dieses … und so weiter. Am Ende der Nahrungskette werden der deutschen Sprache kaum mächtige ausländische Arbeitnehmer ausgebeutet – und der Online-Händler wäscht seine Hände in Unschuld? Kann nicht sein. Soll nicht sein?

Wobei: Angenommen, ein Autohersteller soll nicht nur Verantwortung dafür tragen, wie Dämme und Arbeitsbedingungen bei seinen direkten Lieferanten aussehen, sondern auch bei den Lieferanten seiner Lieferanten und den Lieferanten der Lieferanten seiner Lieferanten bis hin zur brasilianischen Mine: Wie soll der Autohersteller ohne eigene Aufklärungsdivision das denn kontrollieren? Andererseits: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß – das kann ja wohl kaum das akzeptierte Prinzip der Verantwortung in globalen Supply Chains sein!

Nicht zuletzt deshalb, weil es den Chain Liability Effect gibt, der bereits wissenschaftlich erforscht ist: Eine Menge von uns Konsumenten macht nämlich die Hersteller und Händler, bei denen wir kaufen, für jegliche Verstöße gegen Menschenrechte und Umwelt entlang der kompletten Lieferkette verantwortlich. Je mehr ein Unternehmen in der Öffentlichkeit steht und je eher und stärker solche Verstöße ans Tageslicht kommen, desto härter trifft dieser Effekt auch Unternehmen, die sagen: „Was kann ich dafür, dass in Brasilien ein Damm bricht?“ So gesehen sind die globalen Liefernetzwerke noch viel zu intransparent: Wir kriegen mit, wenn 300 Menschen vom Schlamm erstickt werden. Die tagesüblichen Schändlichkeiten in Lieferketten vor allem in Schwellenländern (aber auch bei hiesigen Paketkurieren) kriegen wir (noch) nicht mit. Wobei sich da gerade was tut.

Seit 2016 gibt es eine freiwillige Selbstverpflichtung von Unternehmen, mehr Verantwortung entlang ihrer Lieferkette zu übernehmen. Viele Unternehmen bekennen sich seither zum Beispiel dazu, darauf zu achten, dass entlang der Lieferkette keine existenzgefährdenden Dumpinglöhne bezahlt werden. Weil aber offensichtlich immer noch Dämme brechen und Menschen ausgebeutet werden, prüft die Bundesregierung gerade, ob sie aus der freiwilligen Selbstverpflichtung nicht am besten eine gesetzliche Verpflichtung machen sollte. Zum Beispiel für Unternehmen über 500 Mitarbeiter.

Am entsprechenden Gesetzesentwurf wird gerade gearbeitet. Er sieht bei Verstößen auch Strafen vor, zum Beispiel Ausschluss von öffentlichen Aufträgen, Freiheitsstrafen und Bußgelder. Und verschiedene Unternehmen haben sich sogar bereits dafür ausgesprochen!

Denn Verantwortung wahrzunehmen, kostet Geld. Und wenn das wieder nur einige wenige machen, genießen die Drückeberger einen unlauteren Kostenvorteil. Also sollte ein Gesetz Chancengleichheit herstellen. So ein Gesetz könnte auch für einheitliche Standards sorgen. Das würde die Lieferanten entlasten, die mit den verschiedensten Anforderungen verschiedenster Unternehmen jetzt schon überfordert sind.

Als Bonus wirkt: Unternehmen, die sich gegenüber Umwelt und Menschen nachhaltig verhalten, steigern damit praktisch als erwünschte Nebenwirkung die Qualität ihrer Güter und Dienstleistungen. Denkbar ist auch, dass ein Gesetz, das Unternehmen in die Verantwortung zwingt, einen Sekundäreffekt entwickelt: Weil Unternehmen nun plötzlich auch ganz weit, zum Beispiel bis nach Brasilien nach dem Rechten schauen müssen, reduzieren sie die Komplexität ihrer Lieferketten. Allein schon, um den Überblick behalten zu können. Die Lieferketten werden kürzer, einfacher und transparenter: Die Globalisierung dreht sich teilweise um.

Viel zu lange und viel zu oft gilt immer noch für das moderne Supply Chain Management: Aus den Augen, aus dem Sinn! Was ganz weit weg in der Lieferkette passiert, kriegen wir hierzulande nicht mit und wollen wir auch nicht wissen, geschweige denn dafür verantwortlich sein. Hoffentlich ändert sich das bald. Bevor der nächste Damm bricht.