Ist die Globalisierung tot?

Wem haben wir Corona zu verdanken? Natürlich der Globalisierung – das denken zumindest viele. Würden Menschen und Güter nicht durch die Welt reisen, als wäre sie ein Dorf, hätte sich die Krankheit nie so schnell und weit verbreitet. Denken viele. Weitergedacht: Wenn die Globalisierung an allem schuld ist – wer braucht dann noch sowas? Schafft sie ab!

Das ist kein Appell, sondern eher eine rasante These, welche die aktuelle Diskussion belebt. Wie sinnvoll wäre das?

Aus Sicht der Vermeidung von künftigen Pandemien wäre das sicher eine nützliche Lösung: Wenn Güter und Menschen nicht mehr oder zumindest deutlich weniger reisen würden, würde sich auch das Übertragungsrisiko verringern und die Verbreitung von Erregern verlangsamen. Also weg mit dem Gesundheitsrisiko Globalisierung!

Das allerdings mag zwar gut für die Gesundheit sein, ist aber eher unwahrscheinlich. Natürlich vermelden derzeit viele Unternehmen, dass sie wegen des aktuellen Supply Chain-Schocks ihre Liefernetzwerke überdenken. Aber mal ehrlich: Was soll dabei schon herauskommen?

Wenn, nur mal angenommen, BMW vor drei Jahren zum Beispiel in China eine Autofabrik für 200 Millionen Euro gebaut hat – soll BMW diese jetzt schließen? Abreißen? In München wieder aufbauen? Wie soll das gehen? Eine Fabrik ist kein Rollkoffer.

Scherz beiseite: Sehr viel mehr Chinesen als Deutsche kaufen einen BMW. Warum sollte man sie „ihrer“ Fabrik berauben? Aus Sicht dieses dominanten Marktes wurde die Globalisierung ja bereits abgeschafft: Der chinesische BMW kommt aus der chinesischen Fabrik.

Eine Rückverlagerung von Fabriken macht auch aus einem zweiten Aspekt keinen Sinn: BMW ist nicht der einzige Automobilhersteller auf der Welt. Wenn BMW rückverlagert, Daimler aber nicht, dann ist BMW in drei Jahren weg vom Fenster, weil Daimler sehr viel günstiger im Ausland fertigen kann. Und weil so gut wie jede Branche unter diesem extremen Kosten- und Konkurrenzdruck leidet, kann sich eine De-Globalisierung schlicht kaum einer leisten – kaum einer, der produziert. Deshalb meinte einer der vielen derzeit in den Medien zitierten Epidemologen auch in einem der vielen Interviews sinngemäß: Pandemien wie Corona seien der Preis, den wir für die Globalisierung bezahlen müssten. Ein Preis, in Menschenleben zu bezahlen.

Spätestens an dieser Stelle haken Scharfdenker ein: Ist denn Corona nicht sehr viel teurer als eine Rückverlagerung von Fabriken? Immerhin kostet sie Milliarden Umsatzausfälle, Millionen Arbeitsplätze und Zehntausende Firmenpleiten. Wäre rückverlagern da nicht billiger?

Wegen einer einzigen Pandemie und ein paar Tausend Toten verlagert keiner seine teuren Auslandswerke aus Seuchenrisiko-Gebieten zurück in die Heimat. Ich weiß, das klingt völlig irre. Doch in Zeiten der Pandemie ist „irre“ leider oft die Kehrseite von „rentabel“:  Eine massive De-Globalisierung würde sich nur dann rentieren, wenn die Kosten für Produktions- und Umsatzausfälle auf Dauer deutlich höher wären als die Kosten einer Rückverlagerung.

Grob gesprochen: Wenn es nicht mehr wie zwischen Schweinegrippe (2009) und Corona zehn Jahre Pause gibt, sondern alle zwei, drei Jahre eine Pandemie ausbricht. Erst dann wäre es – und das auch erst nach fünf, zehn Jahren – rentabel und wirtschaftlich rational, wieder mit vielen kleineren Werken nahe der lokalen, regionalen und nationalen Nachfrage zu produzieren. Das finden Sie komplett meschugge?

Das kann ich sehr gut verstehen. Wenn es sich nicht „rentiert“, Menschenleben zu retten, dann stimmt etwas ganz gewaltig nicht mit dem aktuellen Wirtschaftssystem. Leider ist genau dies das Problem: Noch nicht einmal Weltbank, WHO oder der Weltwährungsfonds könnten das allmächtige System ändern.

Die Folgen sind so aktuell wie für die Zukunft absehbar: Ausgerechnet dann, wenn wir knappe Güter wie zum Beispiel Medikamente am nötigsten für den Pandemie-Fall bräuchten, werden die Liefernetzwerke auch künftig zusammenbrechen. Der deutsche Medikamenten-Hersteller zum Beispiel kann aktuell nicht oder lediglich eingeschränkt liefern, weil seine indische Produktionsstätte nicht mehr produziert, da die chinesischen Lieferanten der Grundstoffe in häuslicher Quarantäne sitzen. Das ist die Pandemie-Supply-Chain, ein Rezept zur beschleunigten Ausrottung der Spezies. Ja?

Nein. Unsere Gesellschaft wird zwar vom Primat der Wirtschaft dominiert, doch die Politik ist nicht ganz so hilflos, wie sie häufig scheint. Bereits in der aktuellen Krise haben einige Landes- und Bundesminister angekündigt, dass sie sozusagen krisenwichtige Güter künftig verstärkt wieder in heimischen Landen produzieren und einlagern lassen wollen – wenn nötig, per Gesetz geregelt. Und nicht nur wegen Corona.

Schon lange vor Corona gab es in Deutschland und vielen anderen Ländern massive, das heißt dreistellige Versorgungslücken bei verschiedenen Medikamenten. Wenn die heimischen Hersteller aus Kostengründen dagegen nichts machen können oder wollen, müssen es eben unsere gewählten Volksvertreter – wenn wir ihnen ausreichend Dampf machen. Ganz nach dem Motto: Niemand kann es alleine. Weder die Wirtschaft noch die Politik noch wir so mächtigen Konsumenten. Aber wenn wir alle zusammenhelfen, kann es nur besser werden.