Sicher statt billig

Haben Sie in letzter Zeit in ein leeres Regal gegriffen? Trügt der Eindruck? Oder finden wir in den letzten Monaten in Supermarkt und Discounter häufiger leere Regalplätze, wo früher das lag, was wir kaufen wollten und wo es heute nicht mehr liegt, weil der Artikel out of stock ist?

Noch vor zwei Jahren konnten wir uns nicht vorstellen, was die galoppierende Globalisierung aufhalten sollte. Jetzt können wir es; aus eigener Erfahrung. Wobei vorübergehend nicht lieferbare Artikel lediglich das ist, was in unserer Line of Visibility ankommt. Im Hintergrund dagegen brodelt es. Nichts weniger als ein Paradigmenwechsel ist im Gange.

Wenn Konsumenten, Einkäufer und Supply Chain Manager noch vor zwei Jahren eingekauft haben, waren was die wichtigsten drei Faktoren für jede Kaufentscheidung?

Preis, Preis und Preis.

Etwas weniger polemisch ausgedrückt gab es vor dem Paradigmenwechsel vier klassische Faktoren einer Kaufentscheidung: Kosten, Qualität, Liefersicherheit und -flexibilität – und zwar genau in dieser Priorität und Reihenfolge. Es musste in erster Linie kostengünstig sein, weil die Qualität in unseren Breiten ohnehin gegeben ist, Sicherheit und Flexibilität rangierten weiter hinten.

Wenn also zum Beispiel der Chef-Einkäufer einer Supermarkt-Kette vor zwei Jahren die damals trendig werdende hochprozentige Schokolade (Kakao – nicht Alkohol!) verstärkt ins Sortiment nehmen wollte, fragte er sich, sein Team und seine Lieferanten in dieser Reihenfolge: Wer liefert mir das am günstigsten? In der spezifizierten Qualität? Diese beiden Fragen sind auch heute noch wichtig. Sie werden jedoch angesichts von Störungen und Unterbrechungen der Lieferketten, wie wir sie seit 70 Jahren nicht gesehen haben, relativ schnell relativ unwichtig, wenn nicht befriedigend beantwortet werden kann: Welcher Lieferant trägt das geringste Risiko, bei mir im Regal Out-of-stock-Leerstände zu provozieren? Und welcher liefert selbst bei starken Schwankungen der Bestellmenge mengentreu?

Noch vor Corona hielten wir Konsumenten (und auch viele professionelle Einkäufer) die Fragen nach Liefersicherheit und -flexibilität für praktisch und selbstverständlich beantwortet. Out of stock erlebten wir so gut wie nie. Doch spätestens seit den großen Hamsterkäufen im Frühjahr 2020 und ihren medial aufgeplusterten leeren Regalen (Klopapier, Desinfektionsmittel) mussten wir erfahren: Die Party ist vorüber. Liefersicherheit ist nicht mehr selbstverständlich, sondern artikel- und zeitweise die Ausnahme bis utopisch. Dasselbe gilt für die Lieferflexibilität.

Noch vor zwei Jahren erschien Einkäufer als relativ lockerer Job, was die Bestellmengen angeht: Man kauft praktisch bei 80 Prozent des Spend (Einkaufsvolumen) immer dieselben Produkte in denselben Mengen ein, die zwar saisonbedingt, aber gut vorhersehbar schwanken. Monat für Monat, Woche für Woche. Das war einmal. Denn in den letzten beiden Jahren schwankten die Bestellmengen teilweise um weit mehr als 100 Prozent – und nur wenige Lieferanten waren so flexibel, diese wild oszillierenden Mengen problemlos liefern zu können.

Deshalb sind weltweit fast alle Einkaufsorganisationen derzeit fieberhaft damit beschäftigt, ihre Lieferketten neu aufzustellen oder zumindest kritisch zu überprüfen, wodurch sich auch die Kriterien für die Lieferantenbewertung ändern. Der Schwerpunkt verschiebt sich von den ersten beiden oben genannten Faktoren zu den letzten beiden: Was nützt mir gute Qualität zu günstigem Preis, wenn der Lieferant bei der nächsten Disruption nicht oder nicht flexibel genug liefern kann? Wenn also derzeit zwei Lieferanten vergleichbare Qualität liefern, der eine lediglich etwas teurer ist – dann bekommt er trotzdem den Zuschlag, wenn er glaubhaft darlegen kann, dass er sicherer und flexibler liefern kann als der Mitbewerber. Sicher schlägt billig.

Alle reden immer noch über die Globalisierung. Doch derzeit erleben wir deren teilweise Revision durch die Hintertür. Niemand sagt: „Jetzt schaffen wir die Globalisierung ab!“ Doch genau das passiert momentan in beachtlichem Maße. Das nennt bloß niemand so, weil der Zusammenhang ein mittelbarer ist: Kaum jemand redet von De-Globalisierung, weil alle von Lieferketten-Resilienz reden. Und wie werden Lieferketten resilienter?

Indem zum Beispiel die Getriebeteile nicht mehr aus Malaysia kommen, sondern aus Polen. Viele internationale Lieferanten werden durch nationale oder regionale ersetzt oder ergänzt: Je kürzer die Wege, desto sicherer die Supply Chain. Und noch eine Heilige Kuh des Kapitalismus erfährt eine Abfuhr: Just in time. Auch hier ist die Gleichung einfach: Größere Lager = größere Versorgungssicherheit. Leider zeigen Lieferketten, die sicherer und flexibler werden, auch Nebenwirkungen. Viele Güter wurden bislang umweltfreundlich mit der Binnenschifffahrt transportiert. In Zeiten stark schwankender Liefermengen ist ein LKW zwar umweltschädlich, jedoch schneller. Also flexibilisieren die Supply Chain Manager und Logistiker in diesen unsicheren Zeiten auch den Einsatz ihrer Transportmittel und lassen nun mehr und schnellere LKW fahren.

Wenigstens kann hier die Digitalisierung den Schaden verringern (einmal den Stromverbrauch der Server-Farmen außen vorgelassen): Es liegt nämlich nicht immer daran, dass der Lieferant nicht liefern kann, wenn Leere im Regal herrscht. Oft liegt es daran, dass das Regal längst wieder gut gefüllt sein könnte, wenn der Disponent wüsste, dass exakt die benötigte Menge an der Rampe eines Zwischenhändlers liegt. Doch keiner weiß das (außer dem Zwischenhändler), weil die Warenwirtschaftssysteme der Unternehmen entlang der Supply Chain immer noch nicht miteinander reden, kompatibel sind und mit durchgängigen Schnittstellen verbunden sind. Genau hier setzt die Digitalisierung an. Jede kleinste Packung eines Artikels bekommt ihren Digitalen Zwilling und ist dieser erst einmal im System, kann er nicht mehr verloren gehen oder übersehen werden – wie das seinen analogen Geschwistern bislang häufig ergeht.

Die neue Resilienz der Lieferketten bringt übrigens gute Nachricht für den deutschen Mittelstand. Er liefert im Prinzip sicherer und flexibler – denn er sitzt hier und nicht in Übersee. Natürlich hat Corona auch hierzulande Lockdown-bedingt Lieferketten unterbrochen. Doch kürzere Lieferketten sind prinzipiell besser gefeit gegen Naturkatastrophen, Logistikprobleme, Streiks, politische und gewalttätige Konflikte. Und sie sind flexibler wenn Bestellmengen stark schwanken, weil die Logistik dank kürzerer Distanzen schneller versorgen kann. Kann der deutsche Mittelstand also neben der Qualität, die seit Jahren stimmt, nun auch sichere und flexible Belieferung zusagen, macht er in den nächsten zehn Jahren das Geschäft seines Lebens. Und wir stehen wieder seltener vor leeren Regalplätzen. Sehen wir womöglich in diesen Tagen den Anfang vom Ende der Globalisierung? Wir werden es erleben.

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