Die besten Entscheidungen

Wir alle treffen täglich Dutzende Entscheidungen – Hunderte, wenn wir Mikro-Entscheidungen einrechnen wie „Was essen? Was anziehen? Netflix oder Instagram?“ Wie viele Entscheidungen haben Sie in den letzten beiden Stunden getroffen? Wie viele davon haben sich als falsch herausgestellt?

Artensterben, Klimakatastrophe, vermüllte Meere, fünf Kilo zu viel auf der Waage, zu wenig Zeit für die Familie und die eigene Fitness – das Elend der Menschheit und jedes einzelnen Menschen lässt sich auf milde bis katastrophale Fehlentscheidungen zurückführen. Wir entscheiden uns, uns über die Altersarmut zu empören. Wir entscheiden uns nicht, also entscheiden wir uns folgerichtig dagegen, dem offensichtlich verarmten Nachbarn unter die Arme zu greifen. Auch wer verdrängt, entscheidet. Auch wer nicht entscheidet, entscheidet. Man kann nicht nicht entscheiden. Doch trotz des Fehlentscheidungstsunami, der täglich tobt, schwingen sich nur ganz wenige Menschen zur zentralen Frage der Entscheidungslehre auf:

Wenn wir schon täglich gezwungen sind, dutzendfach zu entscheiden – wie entscheiden wir richtig?

Eine der ältesten Antworten der Historie darauf lautet: mit Entscheidungsregeln. Regelbasierte Entscheidungen sind bessere Entscheidungen. Bei der Bundeswehr gilt zum Beispiel die Entscheidungsregel „Eine Nacht drüber schlafen!“. Wer eine Beschwerde einreichen möchte, sollte eine Nacht drüber schlafen, um sich davor zu schützen, in der Hitze der Erregung zu überreagieren. Eine einleuchtende, simple Regel. Wenden wir uns sechs Regeln zu, die intellektuell etwas anspruchsvoller sind:

„Triff deine Entscheidung stets im letzten verantwortungsvollen Moment!“

Das heißt: Entscheide nicht schnell, sondern so spät wie nur irgend möglich – kurz vor „zu spät“! Wir sitzen zum Beispiel mit gutem Freunden im Restaurant, die Karte kommt. Die typischen Schnellschützen schlagen sie auf und wissen schon, was sie „wollen“. Andere suchen länger. Je länger sie suchen, desto heftiger zweifeln die Schnellentscheider an ihrer (zu) früh getroffenen Entscheidung: „Was nimmst du? Das Cordon Bleu? Hm, klingt auch lecker. Vielleicht sollte ich doch lieber?“ Wenn der Kellner kommt, sind sie so verwirrt, dass sie alle anderen mit ihrem Eiertanz aufhalten. Anstatt dass sie ganz spontan eine vorläufige Wahl treffen, sich dann von der Wahl der Freunde am Tisch „beraten“ lassen und erst dann entscheiden, wenn die Servicefachkraft mit dem Block in der Hand am Tisch steht: spätestmöglicher Zeitpunkt.

Das Paradoxe an Entscheidungsregeln ist: Gerade jene Menschen, die von sich behaupten, keinen Regeln zu folgen, tun genau das. In unserem Beispiel folgen die Spontanentscheider der Regel: „Entscheide dich ohne Bedenkzeit zum frühestmöglichen Zeitpunkt mit unvollständigen Informationen und ohne Abwägen von Alternativen – ohne dir diese Regel bewusst zu machen!“ Deshalb gibt es Menschen im Management und anderswo, die seit 30 Jahren in bestimmten Kontexten mit ihrer Entscheidung danebenliegen. Sie sind ihrer versteckten regelbasierten Entscheidungssabotage noch nicht auf die Schliche gekommen. Daher lautet sozusagen die Meta-Regel:

„Mach dir deine unbewussten Entscheidungsregeln bewusst!“

Eine weitere Regel lautet:

„Beachte stets die Interessen jener, die deine Entscheidung tangiert!“

Klingt logisch und wird deshalb selten gemacht. Da sagt zum Beispiel die Mutter oder der Vater zur Sechsjährigen: „Zieh dein schönes blaues Kleid an – wir gehen zu Omis Geburtstag!“, wo die Kleine erst mal eine halbe Stunde schmollt und biestig ist. Warum? Weil sie ihre pinke neue Jeans anziehen wollte. Hat sie aber niemand gefragt. Weil sie ja bloß ein Kind ist. Später ist sie dann bloß ein Kunde und „die haben doch keine Ahnung von der Technik!“, sagt der Ingenieur und entwirft so, dass danach die Kunden bei der Bedienung des Entworfenen verzweifeln. Wenn es um Entscheidungen geht, sind 90 Prozent der Menschheit galoppierende Egozentriker, blind für die Interessen anderer. Die anderen 10 Prozent entscheiden richtig. Noch’ne Regel:

„Behalte eine getroffene Entscheidung bei, bis es gravierende Einwände gibt!“

Wer lacht hier? Alle. Denn genau das macht die Menschheit im Zeitalter von Cancel Culture und Wokeness nicht mehr. Im Gegenteil. Sobald auch nur der Geringstbeteiligte an einer Entscheidung einen vernachlässigbaren Marginaleinwand hat, wird sofort ein formelles Widerspruchsverfahren eingeleitet – und die nötige Umleitung ums abgasverpestete Dorf wird erst in 40 Jahren gebaut. Wir haben keinerlei Entscheidungsresilienz mehr. Kein Rückgrat. Beim kleinsten Windhauch fallen wir rückwärts um und strecken alle Viere in die Luft. Natürlich darf und soll jeder seine Meinung sagen. Jede*r wird gehört. Jede Meinung ist valide. Doch sie stürzt oder hemmt eine Entscheidung nur dann, wenn sie einen Einwand erhebt, der im Vergleich zur Entscheidung verhältnismäßig ist. Aus dieser Regel lässt sich eine weitere unpopuläre Regel ableiten:

„Wer Einwände erhebt, muss auch praktikable Lösungen anbieten!“

Meckern kann jeder – wie wir täglich erleben. Die Frage ist – und viele Vorgesetzte stellen sie auch: „Sind Sie Teil des Problems oder Teil der Lösung?“ Nur Rummeckern ist keine Entscheidungsfindung. Die letzte Regel, die wir diskutieren wollen, lautet:

„Transparenz!“

Während Corona hatten selbst Akademiker, die abstraktes Denken gewohnt sind, wöchentlich einmal Probleme, die Entscheidungen von RKI und Ministerien nachzuvollziehen. Man ahnte zwar, dass die hektisch verabschiedeten neuen Regeln irgendetwas mit der Pandemiebekämpfung zu tun hatten. Doch warum Blumenläden geöffnet sein durften, Buchläden aber nicht – oder wochenweise jeweils umgekehrt – das hätte doch den einen oder anderen von uns interessiert. Wenn die Entscheidung transparent gewesen wäre, also Auskunft über ihr Zustandekommen gegeben hätte, wäre dieses Interesse befriedigt worden. Doch so wird bei uns nicht entschieden. Eher so:

  1. Der Entscheider hat immer Recht!
  2. Hat der Entscheider einmal Unrecht, tritt a) in Kraft!
  3. Ob der Entscheider Recht oder Unrecht hat, lässt sich nicht sagen, da seine Entscheidung nicht transparent, also nicht anhand der eigenen Prämissen und Schlussfolgerungen nachvollziehbar ist.

Was halten Sie von den diskutierten, komplexen Regeln? Es leuchtet ein, dass sie Entscheidungen besser, nachhaltiger, effektiver machen. Warum halten sich dann nur wenige daran? Weil sie die Regeln nicht kennen? Das auch. Doch der eigentliche Grund ist quasi die Meta-Regel der Fehlentscheidung: Eine Entscheidung muss nicht korrekt sein, solange sie convenient (bequem) ist.

Fünf Kilo weniger auf die Waage? Ist besser, aber unbequem – daher entscheiden wir uns nicht dafür, also de facto dagegen. Mit dem Rad die fünf km zur Arbeit? Ist besser, aber unbequem – also … Die Entscheidungslehre der Fehlentscheidungen kennt nur die Regel der Bequemlichkeit. Was die Frage aufwirft: Warum gibt es dann überhaupt Menschen, die sich chronisch und notorisch richtig entscheiden?

Weil es nichts Besseres gibt als richtig.

Es gibt kaum ein Vergnügen vergleichbar mit dem, in einer Welt voller Fehlentscheidungen einsam aber richtig zu liegen. Richtig ist wie wahr, ehrlich oder schwanger ein Absolutum: unwiderlegbar, unbezweifelbar, unangreifbar. Über Fehlentscheidungen lässt sich lange diskutieren. Über die korrekte Entscheidung nicht. Denn richtig ist immer richtig.

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