Wer soll das bezahlen?

Jetzt rächt sich, dass so viele Menschen glauben, die Wirtschaft sei ein Auto. Corona vorbei? Einfach wieder Gas geben und verlorene Kilometer aufholen! Denkste.

Drei Viertel der deutschen Konzerne und gehobenen Mittelständler kämpfen derzeit wegen der Corona-Folgen, sozusagen wegen Long COVID, mit Liquiditätsengpässen, wie einige Wirtschaftsredaktionen bei Befragungen erhoben haben. Wegen Corona kam (außer bei Amazon) schlicht nicht genug Geld herein. Selbst die Hilfsmilliarden des Staates konnten den Wertschöpfungsausfall nicht kompensieren: Wenn staatliche Krisensubventionierung funktionieren würde, wäre der Sozialismus nicht untergegangen. Kein Staat ist reich oder wirtschaftskompetent genug, eine ganze Wirtschaft auch nur für kurze Zeit zu „kaufen“. Daher kam bei Zehntausenden Unternehmen einfach zu wenig Geld herein.

Ist das Geld aber knapp, kann man nicht Gas geben: Der Sprit fehlt. Wie soll man am Markt mit Produkten Geld verdienen, wenn man nicht genügend Geld hat, die nötigen Materialien einzukaufen, um die Produkte herzustellen, mit denen man am Markt Geld verdienen möchte? Diese lapidare Paradoxie eines desaströsen Teufelskreises entgeht der breiten Öffentlichkeit, die beim Thema Corona lieber mit Inzidenzzahlenklauberei unterhalten sein möchte, anstatt den Mechanismus zu verstehen, dem sie ihren Wohlstand verdankt. Frei nach dem beliebten Bias: Was ich nicht verstehe, kann ja wohl nicht so wichtig sein! Was tun viele Unternehmen, denen das Geld knapp wird?

Das, was die meisten von uns tun: Einfach die eigenen Einkäufe später bezahlen. Der Euphemismus heißt: Zahlungszielverlängerung; in der Regel einseitig und ohne vorherige Absprache nach dem Motto: „Lieferant friss oder stirb!“ Tatsächlich tun viele Letzteres: Denn auch beim Lieferanten, der nun später bezahlt wird, ist das Geld ohnehin schon knapp. Bezahlen bestellende Unternehmen dann noch später, kann das Lieferanten, die seit Corona auf der Kippe stehen, den entscheidenden Schritt weiter bringen. Nämlich über den Rand der Klippe in den Ruin und die Supply Chain bricht zusammen, weil auch Schlüssel-Lieferanten Pleite gehen können.

Ein Viertel der befragten Konzerne und gehobenen Mittelständler hat während Corona ihre Zahlungsziele verlängert. Je größer das Unternehmen, desto öfter wurde verlängert: die Macht der Großen. Wenn deshalb ein kleiner aber kurzfristig unersetzlicher Lieferant Pleite geht, haben die Großen oft nicht mehr genügend Geld, um ihn aufzukaufen, damit wenigstens die Lieferfähigkeit gewährleistet ist. Manchmal fallen dann ganze Lieferketten wie Dominos. Das will die Supply Chain Finance verhindern.

Eines ihrer beliebtesten Instrumente zur Absicherung der Finanzierung innerhalb von Lieferketten ist das sogenannte Reverse Factoring. Zu einem bestellenden Unternehmen und einem liefernden Lieferanten gesellt sich dabei als dritte Partei ein Finanzinstitut, ein FinTech-Unternehmen, ein Start-up oder eine traditionelle Bank. Dieser Finanzpartner schießt quasi das Geld vor, damit der Konzern seinen Lieferanten ohne endloses Zahlungsziel deutlich früher bezahlen kann. Der Lieferant kriegt sein Geld früher, geht nicht Pleite und kann daher weiter liefern: Supply Chain gesichert! Wenn das so toll ist, warum werden dann immer noch Unternehmen insolvent, wenn ihnen das Geld ausgeht?

Weil das Handbuch für frühchristliche Ökonomie, die Bibel, schon wusste: „Wer hat, dem wird gegeben.“ Reverse Factoring nutzen bislang hauptsächlich die großen Unternehmen. 22 Prozent der Unternehmen mit einem Umsatz von einer Milliarde Euro oder mehr nutzen es im Rahmen ihrer Lieferkettenfinanzierung. Wir können uns vorstellen, welche Milliarden-Unsummen dabei weltweit fließen – nur damit die Realwirtschaft weiter brummt und wir im Regal nicht ins Leere greifen.

Wenn die Regale also trotz Corona, Ukraine-Invasion und anderer Katastrophen weiterhin mehr oder weniger gut gefüllt bleiben, liegt das nicht nur an den treuen Diensten der nimmermüden Logistik, sondern auch an der Supply Chain Finance, die das Geld organisiert, damit alle in der Lieferkette flüssig genug bleiben, um bestellen und liefern zu können: Kein Cash, kein Carry! Und noch einmal: Wenn das so ein tolles Instrument ist, warum geraten dann immer noch viele Lieferketten wegen Geldmangels in Schwierigkeiten?

Weil auch Reverse Factoring nicht voraussetzungslos funktioniert. Der Finanzpartner zum Beispiel muss jeden Lieferanten, den er bezahlen soll, zuerst einmal zeitaufwändig durchleuchten – vergleichbar mit der Prüfung auf Kreditwürdigkeit bei Bankdarlehen. Denn wenn sich eine Briefkastenfirma in die Lieferkette schmuggelt, nimmt sie das Geld, ohne zu liefern – und das Geld ist futsch, weil das bestellende Unternehmen keine Ware bekommt. Kommt öfter vor als man denkt.

Außerdem basiert dieses Finanzierungsmodell stark auf Digitalisierung – und viele kleinere Lieferanten sind leider noch nicht digital genug, so dass das Geld nicht fließen kann. Weniger als die Hälfte der Unternehmen mit einem Umsatz von unter 100 Millionen Euro sind ausreichend digitalisiert. Sie werden im Extremfall insolvent, weil sie nicht rechtzeitig digitalisiert haben! Oder weil sie nie das Geld dazu hatten: Wer wenig hat, dem wird auch noch dieses Wenige genommen. Gerade jene, die es am nötigsten hätten, kommen oft nicht ans nötige Geld.

Doch mit den Mitteln der Supply Chain Finance lässt sich nicht nur die Stabilität einer Lieferkette sichern, sondern auch etwas für die Nachhaltigkeit tun. So kann ein Finanzinstitut die Zwischenfinanzierung nur jenen Unternehmen zukommen lassen, welche die aktuell vieldiskutierten ESG-Kriterien erfüllen (Environmental Social Governance). Wessen CO2-Fußabdruck zu großspurig ist, wessen Arbeiter unter schlechten Arbeitsbedingungen leiden, wer verschwenderisch mit Ressourcen umgeht oder die Umwelt verdreckt, der kriegt dann kein Geld – und gerät in Liquiditätsnot oder bessert sich. Geld regiert zwar die Welt. Doch es kann sie auch in Richtung einer besseren Welt regieren.

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