Was ist wichtiger? Überleben oder Klima retten?

Kohlekraftwerke hochfahren, wegen des Gastnotstands? Oder im Winter lieber frieren und das Klima retten? Die Fairtrade-Bananen mit Aufschlag kaufen? Oder lieber die unfairen Bananen und damit den inflationsgebeutelten Geldbeutel schonen? Den Lieferausfall bei Sonnenblumenöl, Taschentüchern, Alu-Rohlingen, Micro-Chips und was noch überbrücken, indem der Einkauf bei Lieferanten bestellt, die Kinder ausbeuten oder Müll in den Wald kippen? Was ist uns wichtiger?

Die Krise(n) überstehen? Oder soziale und ökologische Nachhaltigkeit?

Resiliente Lieferketten oder Klima und Umwelt?

Wohlstand oder Moral?

Es wäre ethisch wertvoll, sagen zu können: Nie wurde diese Frage intensiver diskutiert als heute. Sie wird es nicht. Wir haben die Wahl längst getroffen. Fairtrade- und Bio-Umsätze gehen zurück. Kaum jemand duscht kürzer oder dreht die Klimaanlage runter. Auf der anderen Seite: Nie war es einfacher, ein guter Mensch zu sein.

Mit jedem mageren Euro, den wir in der Börse (oder auf dem Handy) haben, können wir in diesen Krisenzeiten über das Schicksal der Welt entscheiden – und über unser eigenes. Nie war es für einen denkenden Menschen einfacher (oder nötiger), sich moralisch zu verhalten. Jeder Euro bietet die Chance, das Richtige zu tun. Oder eben nicht und es auf die Umstände zu schieben. Wohlgemerkt: Wer jeden Cent so lange umdrehen muss, bis daraus Wickeldraht wird, ist nicht gemeint. Aber wir anderen. Aussitzen nützt auch nicht.

Denn wie wir spätestens seit Corona vermuten: Krise ist das neue Normal. Das bestätigen inzwischen kluge Köpfe. Laut einer McKinsey-Studie vom Dezember letzten Jahres können wir in Automobilindustrie, Pharma, Luft- und Raumfahrt, Computer und Elektronik auch in Zukunft alle 3,7 Jahre mit Lieferunterbrechungen bei Materialien und Vorprodukten von einem Monat oder länger fest rechnen. Mit kleineren Disruptionen häufiger. Die Krise lässt uns nicht mehr los.

Weshalb alle von Resilienz reden; von Krisenresilienz, Zukunftsfähigkeit, Kognitiver Resilienz und Supply Chain Resilience. Was Sinn macht. Es sei denn eine Lieferkette wird resilienter, indem der Vorlieferant eines Vorlieferanten eines Vorlieferanten Kinder an die Werkbank stellt oder Perchloräthylen in den Wald verklappt. Es sind nicht nur die Kohlekraftwerke.

Auch mit vielen anderen Maßnahmen, die uns über die Krise helfen sollen, handeln wir uns einen fatalen Trade-off ein, der sich zu einer Krisenspirale beschleunigt: Je resilienter wir Lieferketten machen, desto stärker schädigen wir damit das Klima, desto heftiger werden die Folgen der Klimakrise, worauf wir noch resilienter werden müssen, was das Klima … et cetera ad infinitum. Oder bis zum Systemversagen. Der klassische Fall einer Lösung, die schlimmer ist als das Problem. Was wäre eine bessere Lösung?

Seltsamer- oder bezeichnenderweise ist die folgenreichste Frage des 21. Jahrhunderts bislang noch wenig erforscht. Es gibt kaum Zahlen, Daten und Fakten dazu, was wiederum eine der größten Chancen für junge und alte Forscher ist, die sich profilieren möchten. Womit?

Zum Beispiel mit der Digitalisierung. Dem Endverbraucher ist sie eher von Fällen bekannt, in denen sie ihn auf mies programmierten Webseiten in den Klick-Wahnsinn treibt. Wenn zum Beispiel der Kunde eines Herstellers für einen Deal auf dessen App einen 17-stelligen Zugangscode per Nachricht bekommt, die App jedoch einen 40-stelligen (!) benötigt, der Help Bot nichts davon weiß und der Mensch am Help Desk nie davon gehört hat. Einmal von solchen Glanzstunden der Digitalen Deformation abgesehen bietet die Digitalisierung tatsächlich die Chance, zusammen mit Resilienz und Nachhaltigkeit ein Magisches Dreieck zu bilden und das Unvereinbare zu vereinbaren.

Zum einen durch ihre einmalige Transparenz. Eine beispielsweise per Blockchain volldigitalisierte Lieferkette ist im Idealfall eine ultimativ transparente Supply Chain. Man sieht via Echtzeit-Monitoring, ob, wie, wo und wie stark Natur und Mensch für eine resiliente Kette leiden müssen und kann eine Entscheidung treffen, die quasi-mathematisch fundiert ist: Am Punkt des optimalen Trade-offs zwischen Resilienz und Nachhaltigkeit.

Zum anderen stärkt die Digitalisierung die Resilienz von Lieferketten und Wohlstand durch Forecasting: Smart Data aus einer schier unbegrenzten Datenwolke liefern die besten Prognosen. Supply Chain Manager können proaktiv ihre Lieferketten gezielt an wunden Punkten resilienter machen, noch bevor diese virulent werden.

Tatsächlich lässt sich die Teufelsspirale umkehren: Je nachhaltiger wir werden, desto resilienter werden wir auch. Denn wenn sozial und ökologisch alles in Ordnung ist, gibt es auch weniger Umweltkrisen, Flüchtlingsströme und Hungerkriege auf der Welt und damit weniger Supply Chain-Disruptionen. Ein ganz konkretes Beispiel: Wenn das Klima nicht mehr verrücktspielt und es im Sommer auch mal wieder regnet, laufen die Frachtkähne auf dem Rhein bei Koblenz nicht länger auf Grund und können Unternehmen besser beliefern, deren Lieferkette dadurch resilienter wird. Quasi eine Lektion in Systemik: Alles hängt mit allem zusammen. Wer’s versteht, fährt besser.

6 Kommentare zu „Was ist wichtiger? Überleben oder Klima retten?

  1. Guten Tag Frau Hartmann,
    leider haben Sie recht, viele wollen einfach nicht einsehen, dass ein Weiter so, uns allen schadet. Auch ich habe erst spät begriffen, was Klima wirklich bedeuted. Die Globalisierung in der Form wie sie gemacht wird, war mir immer suspekt. Das Buch von Jean Ziegler – Imperium der Schande – hat offenbart und bestätigt, was ich gedacht habe. Er ist damals sehr angefeindet worden, selbst von ernsthafen Journalisten. Das Thema Klima habe ich durch die Bücher von Sven Plog endgültig verstanden, obwohl auch Helmuth Schmidt schhon vor jahrzehnten darauf hingeweisen hat.Man lasse sich das mal richtig durch den Kopf gehen – schon Alexander von Humboldt – hat vor 200 Jahren schon vor Versteppung und anderem gewarnt. Also man weiß vieles schon lange, wenn man es den gewollt hätte. Ich hoffe nur, wir kriegen die – Kurve – noch.
    Viele Grüße – Peter Potz

    1. Ich habe mir, lieber Peter, ein Lächeln nicht verkneifen können, als Sie schrieben, die Globalisierung sei Ihnen immer suspekt gewesen – treffendes Adjektiv. Beeindruckend Ihre Belesenheit zum Thema, ein Bildungsmensch im besten Sinne. Da sieht man mal wieder, wozu Bildung ist. Natürlich teile ich Ihre Hoffnung: Wir müssen die Kurve kriegen. Noch besser, wenn sich Entschlossenheit zur Hoffnung gesellt! Evi Hartmann

      1. Hallo Frau Hartmann,
        ich habe gelächelt, dass Sie mich als Bildungsmensch bezeichnen. Ich komme aus einfachen Verhältnissen, habe kein Abitur, aber mit Ende Dreißig
        angefangen anspruchvolle Bücher zu lesen und Dinge mehr zu hinterfragen. Es hat zwar keiner was davon, aber ich sterbe wenigstens nicht dumm. Ihr Buch – Wieviel Sklaven halten Sie – hat mich intensiv beschäftigt und mir gezeigt, das ich oft sicher unbewusst, aber auch bewusst richtig gesehen habe. Zu der Moral, die Sie ansprechen, gehört nach meiner Ansicht auch ein Preis bzw. ein Wert. Ein kleines Beispiel: Als junger Mann bin ich in ein Herrenbekleidungsgeschäft gegangen. Wurde dort von einem Fachmann bedient, der nach Maßnehmen mir die Hose in der richtigen Größe gab. Diese Hose war in D gefertigt, hatte eine gute Qualität und einen Preis, den ich erst anparen mußte – also hatte Sie einen Wert- mit dem ich pfleglich umgegangen bin -das fehlt heute. Es ist auch immens wichtig, man selbst zu sein und öfter gegen den Strom zu schwimmen, auch wenn es manchmal kracht.
        Viele Grüße vom NOK

        1. Unsere Schulbildung in allen Ehren – aber wer mit Ende Dreißig anfängt, anspruchsvolle Bücher zu lesen, hat sich seine Bildung umso mehr verdient, Respekt! Wie auch für Ihre ‚Preisthese der Moral‘, ein bedeutsamer Hinweis in Zeiten, in denen viele von Moral sprechen, jedoch weder den Preis dafür kennen, geschweige denn bezahlen wollen. Evi Hartmann

    2. Moin Evi, da mir dieses Thema sehr wichtig ist, möchte ich noch einige Gedanken äußern. Die Regierung muss Rahmen setzen und auch Verbote. Als man den Katalysator einführte, meinten viele, nun geht die Autoindustrie kaputt. Wie wir wissen, ist es nicht eingetreten. So müsste man heute die SUV´s doppelt oder dreifach Besteuern, bzw. eine hohe Umweltsteuer. Damit diese Leute wenigstens bezahlen für Ihre Unvernunft. Sven Plöger hat ein gutes Beispiel genannt: ein Bewohner aus dem Münchener Umland zahlt für die Taxifahrt zum Flughafen 70€, steigt dann in den Flieger nach Hamburg, zahlt dafür € 35 (ist doch irre). Würde er zum Taxitarif fliegen, müsste er € 900 bezahlen – ich vermute, er würde es lassen. Wichtig wäre auch, dass die Medien öfter über positive Beispiele berichten. Wer weiß z.B., dass Fielmann neben seiner Akademie auch einen großen landwirtschaftlichen Betrieb unterhält, der voll ökologisch betrieben wird, man einem Monotoring der Uni Kiel. Seine Angestellten haben fast alle Aktien des Unterhehmens. Er produziert in D., angagiert sich für Kunst und Kultur uvm. Trigema produziert ebenso in D. Mitarbeiter, die Eltern werden, erhalten für das Kind eine Einstellungsgarantie. Man muß diese Herren nicht mögen, aber Ihr Angagement bewundern. Es gibt noch eine Reihe solcher Unterhmer, aber wo und wann wird darüber berichtet? Es wäre so wichtig, damit man auch wahrnimmt, dass es viele positive Beispiele gibt. Man muss den Menschen auch Mut machen. Und gerade jetzt, wo alle nur von Krisen reden, ist es so immens wichtig, nach vorne zu schauen.
      Liebe Grüße vom NOK – Peter Potz

      1. SUV-Steuer! Grandios – und skandalös. Was das für einen Aufschrei auslösen würde! Danke auch für die Auswahl an vorbildlichen Unternehmen; stimmt: Das sind die echten Hidden Champions, darüber berichtet keiner – mit löblichen Ausnahmen, wie wir eben sehen. Bitte weiter so! Evi Hartmann

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