Hustende Kinder

Dass Herzpatienten fast einen Herzinfarkt bekommen, weil ihr Herzmedikament vergriffen ist – das kannten wir schon. Hat uns als katastrophenmeldungsgewohnte Zeitgenossen nicht sonderlich interessiert – solange es uns nicht betrifft. Doch als in den letzten Wochen unsere eigenen Kinder keuchend husten mussten, weil nirgends mehr kein Hustensaft zu kriegen war, da hörte der Spaß auf und der öffentliche Aufschrei erscholl. Der Kapitalismus frisst seine Kinder.

Der Satz bekam eine ganz neue, wörtliche Bedeutung. Was hat die blöde Marktwirtschaft denn gegen unschuldige süße kleine Kinder? Dabei ist das nicht neu.

Die Sauerei ist alt. Das BfArM, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte führt seit zig Jahren eine Liste mit jenen Medikamenten, die nicht oder nur mit Verzögerung geliefert werden können. Für die Minderheit der Leserinnen und Leser, die sich im Moment total fit und völlig gesund fühlen, sei erklärt: Wer herzkrank ist und von seinem Apotheker „derzeit nicht lieferbar“ gesagt bekommt, für den kommt dieser Hinweis einem Todesurteil gleich: verhängt, noch nicht vollzogen. Zehntausende solcher „Todesurteile“ wurden schon vor dem aktuellen Hustensaftskandal Jahr für Jahr verhängt. Es interessierte nur keinen.

Die BfArM-Liste war schon vor dem Hustensaftdebakel ellenlang; in den letzten Jahren so um die 150. Derzeit listet sie 381 Medikamente auf, die nicht oder nur verspätet geliefert werden. Im Dezember waren es noch 313. In jedem anderen Wirtschaftsbereich – sagen wir Börse, Benzin oder Klopapier – würde ein derart sprunghafter Anstieg einen medialen Aufschrei auslösen, der seinesgleichen sucht. Nicht so, wenn es um die Gesundheit geht, dieses völlig nutzlose Gut, dass durch gesteigerten Konsum von Massenware doch problemlos kompensiert werden könnte. Natürlich ist beißender Sarkasmus keine adäquate Reaktion. Doch wie reagiert man adäquat auf eine verrücktgewordene Welt? Mit Vernunft?

Kapitalismus ist eine schöne Sache. Echt: nix Bess’res – für bestimmte Güter. Doch wir alle haben in den „Grundlagen der VWL“, erstes Semester, gelernt: Öffentliche Güter heißen so, weil man sie niemals der Privatwirtschaft überlassen würde. Innere Sicherheit zum Beispiel ist so ein öffentliches Gut (Produkt: Polizei); äußere Sicherheit ein anderes (Produkt: Bundeswehr). Gesundheit? Da liegt der Hund begraben.

Unsere Krankenhäuser operieren im wahrsten Sinne des Wortes seit Jahren nach streng kapitalistischem Prinzip: Erst die Knete, dann der Kranke. Jetzt gilt das offenbar auch für Herztropfen und Hustensaft. Der Markt hat hier so extrem versagt, dass von ehemals rund 20 deutschen Anbietern für Hustensaft im Frühjahr 2023 nur noch ein einziger übrigblieb. Das ist Marktversagen – kein Ding! Täglich versagt der Markt dutzendfach. Dann springt eben der öffentliche Anbieter ein. Ja? Nein.

Warum versagt überhaupt der Markt? Weil die Globalisierung versagt. 70 Prozent aller in Europa und Japan hergestellten Medikamente benötigen Wirkstoffe aus China, wo die Produktion gerade lahmt, weil zu viele Arbeiter wegen Corona fehlen. Auch für die Globalisierung gilt: tolle Sache! Wie jedes Ding auch. Ein Hammer? Tolle Sache! Nur kann ich damit keine Schrauben eindrehen. Jedes Ding hat seinen Wirkungsbereich. Wird er überschritten, folgt das Desaster. Wir haben offensichtlich geglaubt, dass die Globalisierung alles kann. Kann sie nicht und viele Menschen bezahlen das jetzt mit ihrem Leben oder der Gesundheit ihrer Kinder.

Erst jetzt spricht man von Abhängigkeiten, die wir vor Jahren eingegangen sind, wie die Fliege ins Netz. Das war wie Fahren ohne Bremse. Die Frage ist nicht, ob das knallt, sondern wann.

In der Nordsee schwimmen inzwischen zwei LNG-Terminals – in Rekordzeit vom Stapel gelassen, um uns aus russischer Gas-Abhängigkeit zu befreien. Wieso geht das nicht ähnlich schnell, wenn es um unsere Gesundheit geht? Hat Gas die höhere Priorität?

Als Argument wird manchmal vorgebracht: Die Verlagerung der Produktion von Wirkstoffen und Medikamenten nach Europa würde eben länger als ein LNG-Terminal dauern, länger als ein Jahr. Schlussfolgerung A: Also lassen wir’s! Schlussfolgerung B: Also lass uns asap anfangen – möglichst gestern! Je früher wir anfangen, desto schneller ist das Jahr vorbei. Was würden Sie wählen? A oder B?

B wäre Ausdruck gesunden Menschenverstandes. Doch auch dieser leidet anscheinend unter Lieferschwierigkeiten. Wusste schon Schiller: „Mehrheit ist der Unsinn! Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.“ Den jüngsten Beweis lieferte das Hustensaftdebakel: Nur wenige smarte und mitfühlende Apothekerinnen und Apotheker erinnerten sich ihrer Ausbildung und rührten den fehlenden Hustensaft dann einfach im Keller selber an. Auch das ist ein marktwirtschaftliches Prinzip: Der Markt sind immer viele – doch an seiner Spitze stets nur wenige.

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