Bei der Milch geht der Deckel nicht mehr auf!

Viele verstehen die Welt nicht mehr. Sie kriegen die Milch nicht mehr auf. Wem das auch schon passiert ist, hat sich vielleicht im ersten Moment erschrocken gefragt: Habe ich über Nacht etwa meine Feinkoordination verloren? Ist ein neuer Virus schuld? Nein, die EU.

Und von Schuld kann keine Rede sein. Denn die Idee dahinter ist grasgrün: weniger wilder Verpackungsmüll! Die EU hat 2019 eine Richtlinie erlassen, die in diesen Tagen in großem Stil umgesetzt wird. Coca Cola zum Beispiel hat bereits komplett umgestellt. Von der Richtlinie erfasst werden, grob gesagt, alle Plastikflaschen und Tetra Packs: Ihr Verschluss darf sich nicht mehr vom Gefäß trennen lassen. So kann und soll verhindert werden, dass die Deckel verlorengehen. „Verlorengehen“? Ein Euphemismus.

Denn bislang war es so, dass Millionen Umweltsünder, die sich wie immer keiner Schuld bewusst sind, zwar die PET-Flasche und den Tetra Pack ordnungsgemäß in den Mülleimer warfen, doch der Deckel landete aus Unachtsamkeit oder weil wir ihn mit Lust und Laune als Wurfobjekt verwendeten viel zu oft auf der Wiese, dem Gehweg, im Wald, in der Fußgängerzone … Was viel über uns als Menschheit aussagt: Wir sind fähig, einen Menschen auf den Mond zu schießen, aber unfähig, den Deckel bei der PET-Flasche zu behalten? Wer derart wenig praktische Intelligenz zeigt, den trifft die Klimakatastrophe zurecht. Millionen achtlos weggeworfener Flaschenverschlüsse bezeugen: Wir sind nicht ordentlich genug, um ein menschenwürdiges Klima zu verdienen.

Daher die äußerst sinnvolle EU-Richtlinie. Auch wenn Tausende Seniorinnen und Senioren sich jetzt von Enkelinnen und Enkeln erklären lassen müssen, wie man die neuen Deckel aufkriegt. Manche reißen in ihrem Frust die neuen Kappen einfach komplett ab – was zwar verständlich ist, jedoch exakt dem Gegenteil dessen entspricht, was die Umwelt braucht und die EU beabsichtigt. Dabei wäre das bitter nötig.

Denn wir Deutschen belegen im Welt-Abfallindex mit der schieren Menge unserer Siedlungsabfälle den unrühmlichen dritten Platz. Wir machen zu viel Müll. Insgesamt über alle Bereiche addiert 18,9 Millionen Tonnen jährlich (2019). Eine unvorstellbare Menge, weshalb die üblichen Experten auch eine unvorstellbare Menge an guten Ratschlägen verteilen; picken wir drei heraus:

  1. „Überflüssige Produkte vermeiden!“ Das ist kein realistischer Rat, sondern eine hoch philosophische Frage: Was ist „überflüssig“? Der 6er-Pack Limo, dessen sechs Flaschen in Plastikfolie gehüllt sind? Wir könnten auch nur Wasser aus dem Hahn trinken. Wir wollen das bloß nicht, denn wir leben in einer Gesellschaft, die wie nochmal genannt wird? Richtig: Überflussgesellschaft. Nomen es omen.
  2. „Produkte mit weniger Verpackung kaufen!“ Das ist schon realistischer. Dann eben jenen Sixpack kaufen, der nicht von Folie, sondern von Klebepunkten zusammengehalten wird. Oder der gleich im dünnen Pappkarton auf der Palette im Laden steht.
  3. „Bessere Sortentrennung!“ Viele Landratsämter verschicken jährlich für viel Geld bunte Flyer, in denen sie den lieben Mitbürgerinnen und Mitbürgern erklären, dass Plastikfolie, Metall und Glas nicht in die Biotonne gehören. Das muss man sich mal vorstellen. Zu dumm, um Müll zu trennen. Wir haben es verdient, dass das Klima uns malträtiert. Die Evolution hat ihre Geduld mit uns verloren. Sie wehrt sich.

Auch deshalb haben sich die Verpackungsingenieure auf den Kopf gestellt und neue, EU-konforme Flaschenverschlüsse entworfen; im Fachjargon: „Lösungen für Tethered Caps“ als da sind: SwingAside, SwingOver, SwingDown, ClipIn und SnapOn. Wie viele Begriffe es gibt für Dinge, die wir bisher einfach „Deckel“ oder „Kappe“ nannten!

Peinlich ist, dass erst die EU eine Richtlinie erlassen musste, damit wir den Deckel bei der Flasche lassen. Offensichtlich sind wir nicht allein und von selbst dazu in der Lage. Dabei könnten wir noch so vieles tun, ohne dass der Übervater oder die Übermutter uns mit erhobenem Zeigefinger erst maßregeln müssen. Der Clou: Einige Menschen tun es bereits. Wenn wir im Supermarkt nach dem Einwegplastikbecher-Joghurt greifen, steht neben uns garantiert einer oder eine, der oder die zum Joghurt im Glas greift – und wenn wir uns tatsächlich mal die Mühe machen, sehen wir: minimaler Preisunterschied (selbstverständlich nicht minimal für Millionen Deutsche, die seit Einsetzen der Inflation zu wenig Geld für genügend und nachhaltiges Essen haben).

Am Obst- und Gemüseregal sehen wir Menschen, welche loses Obst oder Gemüse in das mitgebrachte und selbstverständlich dauerverwendete Obstnetz packen. Wir hören von Menschen, die komplett ohne Umverpackung im verpackungsfreien Laden kaufen, auf dem Bauern- oder Wochenmarkt oder direkt auf dem Bauernhof. Wir sehen beim sonntäglichen Spaziergang vereinzelt Menschen, die auf dem Nachhauseweg die leeren Chipstüten und Trinkdosen aufsammeln, die Schulkinder in den Hecken und auf den Grünflächen entsorgt haben. Jetzt im Frühling beteiligen sich wieder etliche Menschen am Frühjahrsputz in der vermüllten Natur – auf Bayrisch „Ramma damma“ (wörtlich: Räumen tun wir). Viele mokieren sich über diese Gutmenschen und spüren dabei doch die irrationale Anziehungskraft ihres Tuns, die daher stammt, dass sie das einzig Richtige und Gute tun. Das mag eine moralische Frage sein; das ist jedoch ganz sicher eine Frage der Intelligenz.

Und Intelligenz lässt sich in Zahlen messen; nehmen wir zur Abwechslung eine weniger häufig gebrauchte Zahl: 2,8 Milliarden Einwegbecher für To go-Getränke allein in Deutschland jährlich; pro Kopf und Jahr sind das 34 im Grunde völlig sinnloser Becher, wenn die Alternative „eigener Mehrwegbecher“ heißt. Dazu 1,3 Milliarden Deckel auf die Becher. Coffee to go ist rabenschwarz, Coffee to stay ist grün. Alle reden von der Klimakrise, ich rede von der Verhaltenskrise: Wie schwer es doch vielen fällt, auch nur eine einzige ihrer schädlichen Verhaltensweisen zu optimieren. Welche Mini Habit wollen Sie heute ändern? Sollte es Ihnen gelingen, bereits vorab mein herzlicher Glückwunsch; ganz im Sinne des Talmud: Wer auch nur eine einzige schlechte Gewohnheit ändert, ändert die ganze Welt.

2 Kommentare zu „Bei der Milch geht der Deckel nicht mehr auf!

  1. Ich hab’s so gelernt und mach es bis heute so. Der Schraubdeckel auf die z.B. Rhönsprudelflasche kommt auch dann wieder drauf, wenn die Flasche leer ist.

    Wobei, wenn ich mir mal unterwegs aus einem Automaten eine Flasche Wasser oder Cola hole, den Plastikdrehverschluss bringe ich kaum auf. Meine Frau jedenfalls bringt sie nicht auf. …Die Rentner halt.

    Auch auf die Flasche kommt der Deckel wieder drauf bevor sie in den Pfandrückgabeautomat kommt.

    1. Ja, lieber Norbert – wenn es doch nur alle so machen würden wie Sie! Leider ist das nicht nur bei den Verschlüssen, sondern auch bei anderen zentralen Themen so. Eben ist ein neuer Roman über die Klimakrise erschienen, dessen Autor im Radio-Interview doch tatsächlich behauptete, der und die Einzelne könne gar nichts für das Klima tun. Er und sie kann also ruhig weiter mit dem fetten SUV die Kinder zur 300m entfernten Schule fahren, die Heizung tagsüber im leeren Haus aufgedreht lassen und jährlich eine halbe Tonne Retouren von Online-Bestellungen auf die Straße schicken. Das eigene Verhalten spielt ja keine Rolle; Schuld sind immer nur die andern. Ist das nur dumm oder schon frech? Evi Hartmann

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