Der Ripple-Effekt

Am 17. Oktober 2016 ereignete sich in Ludwigshafen eine schwere Explosion im Rheinhafen der BASF. Das Feuer wütete zehn Stunden lang, es gab fünf Tote und viele Verletzte, der Sachschaden war enorm. Das waren die unmittelbaren Folgen, die auch die Nachrichten füllten. Was dann jedoch folgte, wird in der heutigen Zeit leider häufig übersehen oder vernachlässigt.

Wir leben in dynaxen (dynamischen und komplexen) Zeiten. Die Komplexität sorgt dafür, dass alles mit allem verbunden ist. Die Dynamik ist schuld daran, dass es in diesem Netzwerk allseitiger Verbundenheit zu üblen Disruptionen kommen kann, von denen sehr viel mehr Menschen und Sachverhalte betroffen sind als jene, die es zunächst und zuerst betrifft. Das wissen wir. Rein theoretisch. In der Praxis sind uns die Konsequenzen nicht immer ganz so klar.

Nachdem der Brand bei der BASF gelöscht war, setzte sich nämlich die Explosion auf andere Weise fort. Sie erwies sich, um ein Bild zu bemühen, als riesiger Stein, der in einen Teich geworfen wird: Noch lange nachdem die erste große Fontäne durch das Aufschlagen des Steins auf der Wasseroberfläche verprasselt ist, laufen die vom Stein geschlagenen Wellen konzentrisch auseinander und breiten die mittelbaren Auswirkungen des Steinwurfs auf den ganzen Teich und seine Ufer aus; zeitlich und räumlich, weshalb das Phänomen auch Ripple-Effekt (Wellen-Effekt) genannt wird.

So sank in Folge der eigentlichen Explosion und dieses Wellen-Effekts wegen der angerichteten Schäden und Aufräumarbeiten im Hafen die Produktion der BASF am Standort. Im Hafen werden jährlich rund 2,6 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen. Pro Tag legen dort im Schnitt sieben Schiffe an. Nach der Explosion waren es deutlich weniger, weshalb die Produktion zurückging und damit der Tagesumsatz. Man schätzt den Rückgang auf 10 bis 15 Prozent. Im Endeffekt wurde dadurch prognostiziert, dass dies das Jahresergebnis des Konzerns um schätzungsweise 6 Prozent schmälert. Ferner musste die Logistik auf Pipelines und Lastwagen umgestellt werden. Alles Folgen im Rahmen des Ripple-Effekts.

Der Ripple-Effekt beschreibt vorrangig eher seltene Ereignisse mit gravierenden Folgen; also Explosionen, Naturkatastrophen, Streiks, Terrorismus, Finanzkrisen, Handelskriege, Sabotage, Unfälle … Am häufigsten wird der Ripple-Effekt ausgelöst durch Tsunamis, Überschwemmungen und Rechtsstreitigkeiten. Wie stark der Ripple-Effekt ist, hängt nicht nur vom Ausmaß der jeweiligen Katastrophe, sondern auch von den zu deren Abwehr ergriffenen pro- oder reaktiven Maßnahmen ab. Niemand weiß, wo der Blitz als nächstes einschlägt. Doch wer vorsorglich einen Blitzableiter installiert und Feuerlöscher an die Wände hängt, reduziert den Ripple-Effekt, sollte der Blitz tatsächlich einschlagen. Aus demselben Grund hat jeder gewissenhafte Familienvater, jede alleinverdienende Mutter, die es sich leisten kann, eine Lebensversicherung: Um im Fall der Fälle den Ripple-Effekt für die Familie möglichst gering zu halten. Es ist schon schlimm genug, was Gott verhüten möge, wenn ein Elternteil vorzeitig stirbt. Doch danach sollen die Kinder wenigstens nicht in Armut darben. Wer klug ist, hält die Ripple flach.

Auch wer auf dem Handy seine Termine managt, kennt und macht das: Mindestens jeden Abend werden sämtliche Termindaten als Back-up auf den PC oder eine externe Festplatte oder in die Cloud gesichert (zumindest nehmen wir uns das vor). Wenn dann das Handy runterfällt und kaputt geht, ist der Ripple-Effekt nicht so desaströs. Was das Back-up fürs Handy, ist Dual Sourcing für Unternehmen: Für wichtige Lieferanten hat man nach Möglichkeit immer eine zweite Quelle in der Hinterhand. Das stoppt den Ripple-Effekt im Fall der Fälle bereits im Keim. Der Stein verursacht im Teich zwar immer noch einen gehörigen Platsch. Doch danach schlägt er nicht mehr dieselben hohen Wellen. Dual Sourcing ist quasi ein hoch wirksamer Wellenbrecher bei so absehbaren Ripple-Ursachen wie Lieferanten-Ausfall.

Bei vielen anderen Katastrophen des Alltags kann von Absehbarkeit keine Rede sein. Wir wissen von ihnen noch nicht einmal, wie weit ihre Wellen über den Teich laufen, wo sie überall ans Ufer schlagen und welche Schiffe sie auf ihrem Weg ans Ufer versenken oder in Seenot bringen. Das ist die Katastrophe nach der Katastrophe. Stellen wir uns einen Auffahrunfall vor: Wir sehen den Blechschaden an der rückwärtigen Stoßstange. Aber ob sich dabei jemand ein Schleudertrauma geholt hat, sehen wir nicht? Das wäre beim Auffahrunfall undenkbar. In der Wirtschaft ist es der Regelfall.

Wenn es zu einem kritischen Ereignis kommt, erkennen wir die unmittelbaren Folgen meist recht schnell. Doch wen es mittelbar noch alles und wie gravierend erwischt, das sehen wir in aller Regel nur sehr ungewiss und bruchstückhaft – und meist zu spät, wenn es uns oder die Betreffenden nämlich schon erwischt hat. Für jene, die es mittelbar erwischt, ist das die größere Katastrophe: Wenn ich nicht weiß, ob der Schlag eines Schmetterlingflügels in Texas oder der umgefallene Sack Reis in Peking sich via Ripple-Effekt auch auf mich und mein Unternehmen auswirkt, bin ich praktisch mit 180 Sachen im Blindflug unterwegs. Es kann mich jederzeit erwischen. Bei jedem Flügelschlag, den ich nicht sehe und dessen Auswirkungen ich nicht absehen konnte oder wollte. Fürs Absehen solcher verzwickter Risiken ist eigentlich die Wissenschaft zuständig?

Stimmt. Doch leider steckt die Ripple-Effekt-Forschung noch in den Kinderschuhen. Wir leben zwar alle in der Globalisierung, das heißt der totalen Vernetzung. Doch welche Ripple-Effekte sich durch diese allumfassende Vernetzung ergeben, das ist kaum erforscht. Weil es einen irrsinnig hohen Forschungsaufwand erfordert.

Dieser Aufwand wäre machbar. Doch das kostet immens viel Zeit, Geld und Tausende guter Forscher. Bislang fehlen alle drei Zutaten. Vielleicht müssen noch ein paar Schmetterlinge Millionenschäden auslösen, bevor die Menschheit die wissenschaftliche Großanstrengung unternimmt. Vielleicht sollte sie dazu auch die Metapher wechseln: Ripples, konzentrisch auseinanderlaufende Wellenkringel? Ein anderes Bild: Die moderne, globalisierte, vernetzte und durch Digitalisierung hochbeschleunigte Welt funktioniert nach dem Domino-Prinzip. Ganz gleich, wie klein das Steinchen auch ist, das als erstes fällt – weil es ein Domino-Steinchen ist, reißt es ganze Reihen von Steinen, Unternehmen und Nationen, potenziell das komplette Spielbrett ins Verderben. Die Weltfinanzkrise 2008/09 war die perfekte Domino-Partie: Unmittelbar fielen nur die Solomon Brothers, mittelbar die ganze Welt. Das ist die Lektion des Steins im Teich: Nur wer seine Position in den mehrdimensionalen Domino-Netzwerken der Welt kennt, überlebt und reüssiert. Der Ripple-Effekt ist das Schicksal der Menschheit im 21. Jahrhundert.